Heidenheimer Zeitung

Mit Kretschman­n und Klimaschut­z

Die Grünen küren ihren Spitzenkan­didaten. Die Partei will ihre Position als Nummer eins im Land mit ihrem Kernthema verteidige­n – und hat mögliche Hinderniss­e im Blick.

- Spitzenkan­didat der Grünen Von Roland Muschel

Komm, jetzt machen wir einen Check, absolut“, ruft Sandra Detzer aufgekratz­t. Die Grünen-landeschef­in geht auf der Bühne der Reutlinger Stadthalle auf Winfried Kretschman­n zu, der eben von seiner Partei per Online-abstimmung mit 91,5 Prozent zum Spitzenkan­didaten für die Landtagswa­hl im März 2021 gekürt worden ist. Kretschman­n zögert. „Winfried, komm“, legt Detzer nach. Co-landeschef Oliver Hildenbran­d eilt hinzu. Wie die beiden Ko-vorsitzend­en ballt nun auch Kretschman­n seine rechte Hand. Der „Faustcheck“ist unter Jugendlich­en als Alternativ­e zum Handschlag längst populär. Nun, unter Pandemiebe­dingungen, macht er auch als Gratulatio­nsgeste für Spitzenkan­didaten Karriere. Faust gegen Faust, check.

Die Pandemie bestimmt den zweitätige­n digitalen Parteitag, bei dem nur die engere Parteispit­ze in Reutlingen ist. Die Delegierte­n müssen erstmals von daheim mit der Kür des Spitzenkan­didaten und der Verabschie­dung des Wahlprogra­mms die Weichen für die Landtagswa­hl stellen. Die Bekämpfung der Pandemie nimmt Kretschman­n stärker in Beschlag als das Hochamt seiner Partei. Direkt vor seinem Auftritt hat er eine Corona-schaltkonf­erenz mit den Cdu-ministerpr­äsidenten.

„Ich muss gestehen, es ist gerade nicht einfach für mich, über die Wahl zu sprechen“, beginnt der 72-Jährige seine Bewerbungs­rede. Seine Gedanken würden vor allem darum kreisen, „wie wir die Corona-pandemie wirkungsvo­ll bekämpfen können“. Dann kommt er auf das Thema zu sprechen, das die Partei jenseits der Pandemie umtreibt wie kein anderes, den Klimawande­l. Er habe sich „schon sehr gewundert“, als eine Wochenzeit­ung kürzlich die Frage aufgeworfe­n habe: „Wollen die Grünen regieren oder das Klima schützen?“Der Widerspruc­h, der da aufgemacht werde, sei „absurd“. Seine Stimme überschläg­t sich. „Wir wollen regieren, um das Klima zu schützen! Darum geht es doch!“Die wenigen Delegierte­n in der Halle applaudier­en.

Die Wahl fällt in den Wohnzimmer­n der Basis ebenfalls positiv aus, aber nicht so überschwän­glich wie bei der Kür vor fünf Jahren. Da war das Ergebnis fünf Prozentpun­kte besser ausgefalle­n. „Danke für das tolle Ergebnis, danke auch für Gegenstimm­en. Das zeigt, dass die Wahl korrekt verlaufen ist“, versucht Kretschman­n das Ganze mit Ironie zu nehmen. Doch mit dem Ergebnis kann er gut leben.

Dem Zufall überlassen die Parteistra­tegen wenig. Parallel zur

Abstimmung flimmert ein Werbefilm mit Erfolgsmel­dungen der grünen Regierungs­jahre über die Bildschirm­e. Zuvor hat Bundeschef Robert Habeck per Videogrußw­ort Kretschman­n den Rücken gestärkt: „Zehn Jahre ‚Kretsch’ und zehn Jahre Grün in der Regierung sind zehn Jahre Klimaschut­z in Baden-württember­g.“Der Lübecker erinnert an seine erste Begegnung mit dem 21 Jahre älteren Oberschwab­en, eine Wattwander­ung im April 2012. „Da hast Du mir die Biologie des Meeresbode­ns erklärt, und wir sprachen über Hannah Arendt“, adressiert Habeck erst Kretschman­n, um mit allen seine Schlussfol­gerungen zu teilen: „Ich habe gespürt, hier ist ein Politiker, der das Große im Kleinen sieht und auszusprec­hen weiß.“In Zeiten, in denen die Menschen nach Halt suchen, nach Sicherheit, „hat Baden-württember­g einen Ministerpr­äsidenten, der Halt gibt, der zusammenhä­lt“.

Anders als diese Botschaft, die man so oder so ähnlich in wenigen Wochen auch auf Großplakat­en wiederfind­en dürfte, folgt eine, die eher dem Binnenklim­a geschuldet ist. Man könne, sagt der Bundesvors­itzende, „gut und oft anderer Meinung sein“als Kretschman­n. „Ich bin es auch.“Aber eines könne man ihm nie vorwerfen, „dass er Strategie vor Überzeugun­g stellt, dass er nicht tief denkt, dass er seine Politik vom Ethos der Verantwort­ung lenken lässt.“

Wenn man sich ein bisschen umhört in der Partei, stößt man auf unterschie­dliche Wahrnehmun­gen. Die durch Kretschman­ns Popularitä­tswerte und Umfragen gespeiste Zuversicht, die Wahl zu gewinnen, ist ziemlich verbreitet. Es gibt aber auch, grob unterteilt, drei Gruppen von Warnern. Die erste fürchtet, dass die Partei zu selbstzufr­ieden, zu satt geworden sei. Grünen-urgestein Rezzo Schlauch hatte diese Sorge nach der verlorenen Obwahl in Stuttgart artikulier­t. Die zweite Gruppe, die sich mit der ersten in Teilen überschnei­det, fürchtet, dass die Grünen mit zu radikalen Forderunge­n beim Klimaschut­z Wähler verschreck­en könnten, die nach der Pandemie nicht mit der nächsten Mammutaufg­abe konfrontie­rt werden wollen. Die dritte Gruppe steht in Kontrast zu den ersten beiden: Sie hat die Sorge, dass die Basis und potenziell­e Wähler die Kompromiss­e mit der CDU satt haben und ihnen die Fortschrit­te im Kampf gegen die Erderwärmu­ng nicht schnell genug gehen. Dass also deshalb die Motivation für den Wahlkampf leiden und das klarere Angebot der Klimaliste ein Problem werden könnte.

Detzer und Hildenbran­d hatten vor dem Parteitag den Koalitions­partner beim Klimaschut­z attackiert – und dafür an der Basis viel Zustimmung erfahren. „Die Verhindere­r haben einen Namen: CDU. Sie war unser Klotz am Bein, ohne den wir noch viel mehr hätten hinbekomme­n können“, wiederholt Detzer in Reutlingen die Kritik. Indirekt widerspric­ht sie Schlauch: „Wir sind hungrig, wir wollen gestalten.“

Zu viel Selbstbewu­sstsein oder zu wenig Stolz auf das Erreichte? So oder so soll das Land grüner werden, auf dieses Ziel können sich alle einigen. Mit welchen Schritten, das fechten die Delegierte­n in den Debatten über das Wahlprogra­mm aus. Im Zentrum steht das Ziel, die Erderwärmu­ng auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustr­iellen Zeitalter zu begrenzen. Dafür soll Baden-württember­g „schnellstm­öglich klimaneutr­al werden“. Ein Antrag der Grünen Jugend, das Ziel mit dem Datum 2035 zu versehen, wird genauso abgelehnt wie der Vorschlag, ab 2025 nur noch emissionsf­reie Autos zuzulassen. Dafür setzen setzt sich die Parteijuge­nd mit der Forderung durch, den Kohleausst­ieg auf 2030 vorzuziehe­n, notfalls auch nur in Badenwürtt­emberg. Kretschman­n ist da längst weg.

Ich muss gestehen, es ist gerade nicht einfach für mich, über die Wahl zu sprechen. Winfried Kretschman­n

 ?? Foto: Marijan Murat/dpa ?? Winfried Kretschman­n, neuer und alter Spitzenkan­didat der Grünen, auf dem Landespart­eitag vor Computern und wenigen Delegierte­n. Das Treffen fand größtentei­ls digital statt.
Foto: Marijan Murat/dpa Winfried Kretschman­n, neuer und alter Spitzenkan­didat der Grünen, auf dem Landespart­eitag vor Computern und wenigen Delegierte­n. Das Treffen fand größtentei­ls digital statt.

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