Weihnachtliches Risiko
Einen Hauch von Normalität im Corona-irrsinn sollte das Weihnachtsfest bieten. Das jedenfalls war es, was die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder den Deutschen versprochen haben – damals, Ende Oktober, vor unendlich weit weg erscheinenden sieben Wochen. Ein „Lockdown light“sollte die Infektionswelle brechen. Und dann sollten Familien sich für ein paar Tage unterm Baum nahe sein dürfen, ohne dass daraus das nächste Infektions-event würde.
Das war der Traum. Und man muss sagen: Er ist gescheitert; das exponentielle Wachstum der Infizierten-zahlen kam zurück. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird Deutschland trotz des harten Lockdowns zur Zeit des Weihnachtsfestes die höchsten Patientenzahlen auf den Intensivstationen verzeichnen, die es im Laufe der Pandemie bisher gesehen hat. Denn dort werden in anderthalb bis zwei Wochen jene Menschen eingeliefert werden, die sich jetzt, vor dem Lockdown, vielleicht sogar im Trubel der letzten zwei offenen Einkaufstage anstecken. Das ist epidemiologische Zwangsläufigkeit.
Es war absehbar, dass kaum jemand Beschränkungen ernst nimmt, die als „light“verkauft werden. Dazu brauchte man in den vergangenen Wochen nur in die Innenstädte zu schauen. Wenn man Weihnachten wirklich hätte retten wollen, wäre spätestens vor zwei Wochen ein hartes Durchgreifen erforderlich gewesen, um bis zum
Fest die Infektionszahlen zu senken. Nur die politische Mehrheit in den Ländern war dafür nicht da. Das Phänomen ist altbekannt: Erst, wenn der Leidensdruck groß genug ist, regt sich die Bereitschaft für eine Änderung.
Was bedeutet das aber für Weihnachten? Mit dem kühlen Blick des Wissenschaftlers müsste man sagen:
Weihnachten im größeren Familienkreis in diesem Jahr ist Wahnsinn. Selbst wenn wie geplant maximal vier Gäste plus Kinder für die drei Weihnachtstage eingeladen werden dürfen, besteht ein Risiko – gerade für Großeltern. Von den rund 22 000 Menschen, die in Deutschland bereits an oder mit Corona gestorben sind, waren mehr als 20 000 über 60 Jahre alt.
Wenn es ausschließlich darum ginge, das Risiko zu verkleinern, müsste
Letztlich ist es die Entscheidung jedes Bürgers, ob er sich einer Gefahr aussetzt. Aber er muss das Risiko kennen.
man den Menschen also zurufen: Telefoniert, schaltet Euch zu Videokonferenzen zusammen und trefft Euch, wenn die Gefahr geringer ist. Verschiebt Eure Weihnachtsfeier!
Aber Weihnachten verschieben? Das wäre genauso weltfremd wie die zwischenzeitliche Forderung des Kanzleramts, die Kontakte der Kinder auf einen Freund oder eine Freundin zu reduzieren. Menschliche Beziehungen basieren selten auf wissenschaftlicher Vernunft. Und der Zusammenhalt einer Gesellschaft manifestiert sich auch und gerade in persönlichen Begegnungen ihrer Keimzelle: der Familie. Letztlich ist es die Entscheidung jedes einzelnen Bürgers, inwieweit er sich einer Gefahr aussetzt – sei sie abstrakt oder tatsächlich. Auch Großeltern haben das Recht zu entscheiden: Ich will bei meiner Familie sein. Sie müssen allerdings wissen, dass sie das größte Risiko tragen. Denn das Virus macht keine Weihnachtsferien.