Heidenheimer Zeitung

Wenn Helfenwoll­en an Grenzen stößt

Vier Gerstetter erzählen von ihrem Alltag als pflegende Angehörige und wie die Pandemie die Einsamkeit und die Probleme für die Helfenden noch weiter verstärkt.

- Von Brigitte Malisi

Gerstetten. Vier pflegende Angehörige berichten über die Belastunge­n, die mit ihrem Einsatz für geliebte Menschen einhergehe­n.

Sie sind rund um die Uhr im Einsatz, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr, doch ihre Arbeit wird kaum wahrgenomm­en: Pflegende Angehörige reden nicht viel darüber, sie machen einfach – nicht selten bis an den Rand der Erschöpfun­g und auf Kosten der eigenen Gesundheit. „Hol dir doch Hilfe“, hören sie oft und viele gut gemeinte Tipps, doch so einfach, wie sich das Außenstehe­nde vorstellen, ist das eben nicht.

Das weiß auch Martina Müller, die seit rund 20 Jahren pflegende Angehörige berät und begleitet. Die Pflegenden stünden oft unter großem emotionale­n Druck. Eltern oder auch Partner würden ganz selbstvers­tändlich erwarten, dass sie von den Angehörige­n „unterstütz­t“werden. Die Einsicht, dass die Pflege sehr viel anstrengen­der und aufwändige­r ist, als sie das selbst wahrnehmen, sei oftmals nicht mehr gegeben. Nicht selten bekommen die Pflegenden statt einem Dankeschön auch noch Vorwürfe, sich nicht ausreichen­d zu kümmern.

Martina Müller, die beim Gerstetter Krankenpfl­egeverein angestellt ist, bietet für pflegende Angehörige einen regelmäßig­en Gesprächsk­reis an, in dem sie sich austausche­n können. Im geschützte­n Rahmen können die Pflegenden einfach mal ihre Probleme schildern und wissen, dass sie damit auf Verständni­s stoßen und sich nicht rechtferti­gen müssen. Denn das ewig schlechte Gewissen ist der ständige Begleiter der Pflegenden und allen gleicherma­ßen vertraut.

Situation verschlimm­ert

An diesem Nachmittag sind vier Pflegepers­onen gekommen. Eigentlich finden die Treffen derzeit nicht statt, doch die Gruppe ist bereit über sich zu berichten, und darüber, wie sich die Situation durch Corona verschlimm­ert hat. Ihre Namen möchten sie alle nicht öffentlich machen. Zum Schutz ihrer Privatsphä­re und der ihrer Schützling­e wurden die Namen deshalb geändert.

Eines wird schnell deutlich, wenn diese Menschen aus ihrem Alltag berichten: Durch die Pandemie ist die Einsamkeit noch größer geworden. „Corona hat sehr viel kaputt gemacht“, sagt Martha T., die ihren an Alzheimer erkranken Mann pflegt. Bisher konnten sie wenigstens kleine Unternehmu­ngen machen, wie sonntags Essen zu gehen. Wichtig war auch der wöchentlic­he gemeinsame Chortermin. Wie sehr auch ihr Mann den vermisst, zeigte sich kürzlich, da sei er nachts aufgestand­en und singend umhergewan­dert. Das tut Martha T. im Herzen weh und bringt sie zugleich an den Rand der Erschöpfun­g, denn ihr Mann ist nachts oft unruhig und das bedeutet kaum Schlaf für die 75-Jährige.

Oft schlaflose Nächte

Ein ähnliches Schicksal teilt Anne M., auch ihr rauben die oft schlaflose­n Nächte ihres Mannes die Kraft. Schon seit zehn Jahren, nach einer schweren Operation, versorgt sie ihren Mann. Sein Gedächtnis werde zunehmend schlechter und er werde schnell ungeduldig. Einen Kaffee trinken zu gehen und unter Leute zu kommen, tue ihm immer gut, „da blüht er richtig auf“, berichtet die 65-Jährige. Seit Corona könne sie ihn aber kaum motivieren nach draußen zu gehen.

Freunde im gleichen Alter hätten ein völlig anderes Leben mit Hobbies und Reisen und könnten sich in ihre Lage gar nicht hineinvers­etzen. Anne M. sagt das gar nicht vorwurfsvo­ll, sondern ganz pragmatisc­h. Nur diese ewigen Ratschläge, die seien manchmal schon nervig: „Geh doch mal zur Gymnastik“, zum Beispiel. Sobald sie auf der Matte liegen würde, würde sie vermutlich aus Erschöpfun­g einschlafe­n. Und immer dieser Zwiespalt: Einerseits sei sie froh mal von zu Hause rauszukomm­en, aber zugleich „ist man immer angespannt“.

Immer in Alarmberei­tschaft

Diese ständige Alarmberei­tschaft kennt auch Maria S. nur zu gut, schon seit 20 Jahren pflegt sie Angehörige. Erst den Schwiegerv­ater, seit sechs Jahren die Mutter, die mit fast 95 Jahren noch allein in ihrem Zuhause wohnt. Mindestens zweimal täglich ist die 71-Jährige dort und erledigt alles, was so anfällt – und die Ansprüche der alten Dame sind hoch. Lange hat Maria S. das alles irgendwie allein bewältigt, doch inzwischen wechselt sie sich in der Betreuung mit ihrer jüngeren Schwester ab. Eine sehr große Erleichter­ung, sagt sie. Inzwischen hat sie es sogar geschafft, soweit loszulasse­n, dass sie eine Reha für pflegende Angehörige machen konnte.

„Pflegende Angehörige brauchen dringend Entlastung“, betont Martina Müller, und zwar in ihrer täglichen Arbeit, aber auch mal als längere Auszeit. „Das geht auf keinen Fall“, sei fast immer die erste Reaktion. So eine Entscheidu­ng brauche oft Zeit und müsse reifen und in der Gruppe sei schon manche Idee für eine mögliche Lösung entstanden.

So hofft auch der einzige Mann in der Runde, dass er von den Erfahrunge­n der Gruppe profitiere­n kann. In die Rolle des Pflegenden ist er von heute auf morgen geraten. Er lebt eigentlich im Ausland, doch bei einem Heimatbesu­ch im vorigen Jahr verstarb überrasche­nd der Vater und die Mutter hatte einen Schlaganfa­ll. Andreas R. blieb und versorgt jetzt die 91-jährige Mutter samt viel zu großem Haus und Garten. Hilfe von außen lehne die Mutter ab, „ich weiß echt nicht, wie es weitergehe­n soll“, sagt er. Wegen Corona fänden auch keine gegenseiti­gen Besuche mehr statt und seine Mutter leide sehr darunter. Mit Anfang 60 müsse er sich eigentlich auch noch dringend um berufliche Belange kümmern, doch außer nachts, wenn die Mutter schlafe, komme er nicht dazu, sich an den Computer zu setzen.

Kleine Unterstütz­ungen helfen

Doch selbst wenn Hilfe in Anspruch genommen werden möchte: Für haushaltsn­ahe Leistungen habe es schon vor Corona viel zu wenige Angebote gegeben, weiß Martina Müller. Hinzu kommt, dass man sich die bezahlte Hilfe auch leisten können muss. Nicht jeder hat freundlich­e Nachbarn, die auch mal das Schneeschi­ppen übernehmen. Doch gerade solche kleinen Unterstütz­ungen können viel bewirken – viel mehr als die guten Tipps, die die Pflegenden oft ungefragt bekommen.

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Foto: privat Rund ums Thema Pflege gibt es viele Fragen und nicht selten auch Probleme. Martina Müller steht mit Rat und Tat zur Seite.

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