Absturz in brutale Tyrannei
Zehn Jahre nach den mutigen Aufständen im Nahen und Mittleren Osten ist die Region völlig zerrüttet. Trotzdem stärkt der Westen die skrupellosen Regime mit Waffenlieferungen und Milliarden-hilfen. Das muss endlich aufhören.
Ein Jahrzehnt ist es her, dass der Millionen-jubel vom Boulevard Habib Bourguiba in Tunis über den Tahrir-platz in Kairo bis an die Corniche von Bengasi zog. Fasziniert verfolgte die Welt, wie die arabschen Völker mit heroischem Mut versuchten, ihre Diktatoren abzuschütteln. Ins Rollen gekommen war das kollektive Aufbegehren am 17. Dezember 2010 in Tunesien, ausgelöst durch den jungen Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich aus Verzweiflung anzündete und drei Wochen später starb. Anschließend erschütterte das politische Erdbeben Ägypten, das Herz der arabischen Welt, von wo aus die Schockwellen weiter nach Libyen und Syrien, nach Bahrain und in den Jemen eilten.
Endlich, so schien es, wachten die arabischen Völker auf, boten ihren autoritären Regimen und erstickenden Staatsapparaten die Stirn. Arabischer Frühling – so hieß die Chiffre für die neuen Hoffnungsprojekte des Nahen und Mittleren Ostens, für den scheinbar endlich bewältigten Quantensprung der islamisch-arabischen Kernregion hin zu Modernität, Pluralität und Demokratie. „Wer wissen will, wie Hoffnung aussieht, der schaue sich die Straßen Ägyptens an”, jubelte damals die bekannte ägyptische Schriftstellerin Ahdaf Soueif.
Zehn Jahre später ist alle Euphorie verflogen. Aus der Riege der repressiven Staaten ist eine Achse der scheiternden Staaten geworden, ein Niedergang, den die Corona-pandemie zusätzlich beschleunigt. Der katalytische Effekt des Arabischen Frühlings hat die Zerrüttung der arabischen Welt nur weiter vertieft, so dass ihr Staatengefüge heute am Rand des Zusammenbruchs steht. „Die gesamte Region ist im Krieg gegen sich selbst, sie ist der kranke Mann der Welt“, urteilte der libanesische Politologe Paul Salem, Chef des „Middle East Institute“in Washington D.C. Und niemand kann ausschließen, dass es noch weiter bergab geht mit Gewalt, Inkompetenz und Korruption, mit Armut und Arbeitslosigkeit, Polizeiwillkür und Menschenrechtsverletzungen, mit Klimaschäden und Wassermangel. „Zum ersten Mal ist es wirklich gerechtfertigt, alle Hoffnung für den Nahen Osten fahren zu lassen“, schrieb Steven A. Cook vom „Council on Foreign Relations“.
Ein autoritärer Gesellschaftsvertrag
Im Zentrum dieses Fiaskos steht der „autoritäre Gesellschaftsvertrag“, mit dem die arabischen Autokraten ihre Bevölkerung seit Jahrzehnten gefügig halten. Dieser basiert auf dem im Nahen Osten typischen Rentierstaat, der seine nationalen Einkünfte nicht primär aus einer innovativen mittelständischen Wirtschaft und einer breit gefächerten Industrieproduktion generiert, sondern aus Bodenschätzen wie Öl, Gas und Phosphat, aus Immobiliengeschäften und Devisentransfers durch Landsleute im Ausland sowie aus Finanzhilfen westlicher Geberländer. Das Monopol bei der Verteilung der Mittel haben entweder adelige Herrscherdynastien oder mafiöse Kartelle aus Politikern, Generälen und Oligarchen. Die große Masse dagegen geht leer aus, zwei Drittel der 400 Millionen Araber leben in prekären Verhältnissen. Ihren fetten politischen Eliten dagegen fehlt jeder gesellschaftliche Gestaltungswille und jedes Bewusstsein für das öffentliche Wohl.
Denn der autoritäre Rentierstaat wirbt um die Loyalität seiner Bürger nicht durch ein offenes gesellschaftliches Klima und Chancen für echte politische Mitarbeit. Seine Machthaber erkaufen sich die Gefolgschaft ihrer Landsleute durch staatliche Wohltaten aus der Gießkanne – flächendeckende Subventionen für Brot, Gas, Strom und Benzin sowie absurde Jobzahlen in extrem aufgeblähten öffentlichen Diensten. Wer dann trotzdem nicht spurt, dem schicken sie ihren überdimensionierten Polizei- und Sicherheitsapparat auf den Hals.
Diese seit Generationen praktizierte Methodik des Machterhalts jedoch überfordert längst die Finanzkraft sämtlicher arabischer Staaten, die alle mit chronisch maroder Wirtschaft und sinkenden Ölpreisen, mit hoher Arbeitslosigkeit und schnell wachsenden Bevölkerungszahlen zu kämpfen haben. Die meisten Regime verbrauchen heutzutage zwei Drittel und mehr ihrer Staatsetats für Subventionen, öffentlichen Dienst, Sicherheitsapparate und Schuldzinsen.
Investitionen in die Zukunft dagegen verkommen zu einem Rinnsal, der typische Teufelskreis dieses „autoritären Gesellschaftsvertrags“. Im Sudan unter Diktator Omar Bashir floss die Hälfte des Haushalts an Polizei und Geheimdienst. Algerien verzehnfachte in den letzten 20 Jahren die Zahl seiner Polizisten. Tunesien, das sich als Leuchtturm arabischer Demokratieentwicklung feiern lässt und ohne die europäischen Finanzhilfen längst bankrott wäre, leistet sich – bezogen auf Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung – einen der größten und teuersten öffentlichen Dienste auf Erden, der jedes Jahr drei Viertel des Steueraufkommens verschlingt.
Kein Wunder, dass der Arabische Frühling nur ein Intermezzo geblieben ist. Nirgendwo gelang es den arabischen Massenprotesten, die Eliten zu entmachten und ihre Nationen auf ein neues Fundament
zu stellen. Stattdessen wird die Litanei des Horrors immer länger. Ex-feldmarschall Abdel Fattah al-sisi errichtete den härtesten Repressionsstaat, den es am Nil je gegeben hat. Den Volksaufstand 2011 gegen Hosni Mubarak nennt der Hyper-diktator nur noch abfällig „die Januar-vorfälle“.
Syrien radiert sich seit zehn Jahren selber aus mit einem bestialischen Bürgerkrieg. Das gleiche Schicksal droht dem Jemen im Krieg zwischen Saudi-arabien und den vom Iran unterstützten Houthis. Libyen hat aufgehört, als Nation zu funktionieren. Bis in die Wohnviertel von Tripolis und Bengasi reichen die Zerstörungen in dem Bruderkrieg, den ausländische Mächte auf beiden Seiten befeuern. Der Libanon ist bankrott und steht vor dem Staatskollaps. Der Irak besitzt mit die größten Ölschätze der Welt. Seine korrupte politische Klasse jedoch schafft es nicht, die Bevölkerung zuverlässig mit Strom und fließendem Wasser zu versorgen. In Algerien sind die Generationen bereits geboren, die das Ende der Öl- und Gasvorkommen am eigenen Leibe erfahren werden, während ihre korrupten Eliten den nationalen Reichtum seit der Unabhängigkeit 1962 verprassen, statt ihn in die Zukunft der Nation zu investieren.
Die verheerende Zehn-jahres-bilanz des Arabischen Frühlings zieht aber auch Europas bisherige Nahost- und Nordafrikapolitik grundsätzlich in Zweifel. Wie umgehen mit einer Nachbarregion, die Unsummen an Entwicklungsgeldern einstreicht, deren Regime aber noch nie einen ernsthaften Willen zeigten, ihre Völker an dem politischen Geschehen zu beteiligen und deren Menschenrechte zu achten? Offenbar fördern die Milliardengaben der Industrienationen nicht soziale Gerechtigkeit und verantwortliches Regierungshandeln, sondern zementieren die herkömmlichen „autoritären Gesellschaftsverträge“.
Wo bleibt der Druck auf die Potentaten?
Die gleiche Wirkung haben auch die exzessiven Rüstungsgeschäfte Europas und der USA in der Region, in der fünf Prozent der Weltbevölkerung leben, die aber 35 Prozent aller Waffen kauft – mit absurden Folgen, wie das Beispiel Ägypten zeigt. Der Westen versorgt das Land am Nil trotz brutalster Tyrannei unverdrossen mit großzügigen Haushaltszuschüssen und Infrastrukturhilfen, obwohl das Regime von Ex-feldmarschall Abdel Fattah al-sisi seit 2015 die händeringend für das eigene Volk benötigten Ressourcen als drittgrößter Waffenkäufer der Welt vergeudet.
In Tunesien sorgte der unkritische wie unkoordinierte Geldsegen der EU nach der Revolution 2011 dafür, dass die politische Klasse bis heute kaum dringend nötige Reformen anpackt. Libanons Staatsmafia rührt selbst nach dem Bankenkollaps und der Beiruter Hafenexplosion keinen Finger, weil sie darauf pokert, dass Brüssel am Ende doch die Milliarden locker macht, um den Absturz in einen gescheiterten Staat abzuwenden.
Und so graben sich zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling Machtmissbrauch und Misere im Nahen Osten immer tiefer ein. Es wird Zeit, dass Europa und die USA daraus die Konsequenzen ziehen und beides beenden, ihre Waffengeschäfte und ihre naiv-gutgläubigen Staatshilfen. Anders werden die arabischen Potentaten nicht von ihrem repressiven wie unbezahlbaren „autoritären Gesellschaftsvertrag“abrücken. Und anders werden die Völker nie zu einer eigenen Stimme kommen.
Nirgendwo gelang es den protestierenden Massen, ihre Nationen tatsächlich auf ein neues Fundament zu stellen.