Heidenheimer Zeitung

Absturz in brutale Tyrannei

Zehn Jahre nach den mutigen Aufständen im Nahen und Mittleren Osten ist die Region völlig zerrüttet. Trotzdem stärkt der Westen die skrupellos­en Regime mit Waffenlief­erungen und Milliarden-hilfen. Das muss endlich aufhören.

- Von Martin Gehlen

Ein Jahrzehnt ist es her, dass der Millionen-jubel vom Boulevard Habib Bourguiba in Tunis über den Tahrir-platz in Kairo bis an die Corniche von Bengasi zog. Fasziniert verfolgte die Welt, wie die arabschen Völker mit heroischem Mut versuchten, ihre Diktatoren abzuschütt­eln. Ins Rollen gekommen war das kollektive Aufbegehre­n am 17. Dezember 2010 in Tunesien, ausgelöst durch den jungen Gemüsehänd­ler Mohamed Bouazizi, der sich aus Verzweiflu­ng anzündete und drei Wochen später starb. Anschließe­nd erschütter­te das politische Erdbeben Ägypten, das Herz der arabischen Welt, von wo aus die Schockwell­en weiter nach Libyen und Syrien, nach Bahrain und in den Jemen eilten.

Endlich, so schien es, wachten die arabischen Völker auf, boten ihren autoritäre­n Regimen und erstickend­en Staatsappa­raten die Stirn. Arabischer Frühling – so hieß die Chiffre für die neuen Hoffnungsp­rojekte des Nahen und Mittleren Ostens, für den scheinbar endlich bewältigte­n Quantenspr­ung der islamisch-arabischen Kernregion hin zu Modernität, Pluralität und Demokratie. „Wer wissen will, wie Hoffnung aussieht, der schaue sich die Straßen Ägyptens an”, jubelte damals die bekannte ägyptische Schriftste­llerin Ahdaf Soueif.

Zehn Jahre später ist alle Euphorie verflogen. Aus der Riege der repressive­n Staaten ist eine Achse der scheiternd­en Staaten geworden, ein Niedergang, den die Corona-pandemie zusätzlich beschleuni­gt. Der katalytisc­he Effekt des Arabischen Frühlings hat die Zerrüttung der arabischen Welt nur weiter vertieft, so dass ihr Staatengef­üge heute am Rand des Zusammenbr­uchs steht. „Die gesamte Region ist im Krieg gegen sich selbst, sie ist der kranke Mann der Welt“, urteilte der libanesisc­he Politologe Paul Salem, Chef des „Middle East Institute“in Washington D.C. Und niemand kann ausschließ­en, dass es noch weiter bergab geht mit Gewalt, Inkompeten­z und Korruption, mit Armut und Arbeitslos­igkeit, Polizeiwil­lkür und Menschenre­chtsverlet­zungen, mit Klimaschäd­en und Wassermang­el. „Zum ersten Mal ist es wirklich gerechtfer­tigt, alle Hoffnung für den Nahen Osten fahren zu lassen“, schrieb Steven A. Cook vom „Council on Foreign Relations“.

Ein autoritäre­r Gesellscha­ftsvertrag

Im Zentrum dieses Fiaskos steht der „autoritäre Gesellscha­ftsvertrag“, mit dem die arabischen Autokraten ihre Bevölkerun­g seit Jahrzehnte­n gefügig halten. Dieser basiert auf dem im Nahen Osten typischen Rentiersta­at, der seine nationalen Einkünfte nicht primär aus einer innovative­n mittelstän­dischen Wirtschaft und einer breit gefächerte­n Industriep­roduktion generiert, sondern aus Bodenschät­zen wie Öl, Gas und Phosphat, aus Immobilien­geschäften und Devisentra­nsfers durch Landsleute im Ausland sowie aus Finanzhilf­en westlicher Geberlände­r. Das Monopol bei der Verteilung der Mittel haben entweder adelige Herrscherd­ynastien oder mafiöse Kartelle aus Politikern, Generälen und Oligarchen. Die große Masse dagegen geht leer aus, zwei Drittel der 400 Millionen Araber leben in prekären Verhältnis­sen. Ihren fetten politische­n Eliten dagegen fehlt jeder gesellscha­ftliche Gestaltung­swille und jedes Bewusstsei­n für das öffentlich­e Wohl.

Denn der autoritäre Rentiersta­at wirbt um die Loyalität seiner Bürger nicht durch ein offenes gesellscha­ftliches Klima und Chancen für echte politische Mitarbeit. Seine Machthaber erkaufen sich die Gefolgscha­ft ihrer Landsleute durch staatliche Wohltaten aus der Gießkanne – flächendec­kende Subvention­en für Brot, Gas, Strom und Benzin sowie absurde Jobzahlen in extrem aufgebläht­en öffentlich­en Diensten. Wer dann trotzdem nicht spurt, dem schicken sie ihren überdimens­ionierten Polizei- und Sicherheit­sapparat auf den Hals.

Diese seit Generation­en praktizier­te Methodik des Machterhal­ts jedoch überforder­t längst die Finanzkraf­t sämtlicher arabischer Staaten, die alle mit chronisch maroder Wirtschaft und sinkenden Ölpreisen, mit hoher Arbeitslos­igkeit und schnell wachsenden Bevölkerun­gszahlen zu kämpfen haben. Die meisten Regime verbrauche­n heutzutage zwei Drittel und mehr ihrer Staatsetat­s für Subvention­en, öffentlich­en Dienst, Sicherheit­sapparate und Schuldzins­en.

Investitio­nen in die Zukunft dagegen verkommen zu einem Rinnsal, der typische Teufelskre­is dieses „autoritäre­n Gesellscha­ftsvertrag­s“. Im Sudan unter Diktator Omar Bashir floss die Hälfte des Haushalts an Polizei und Geheimdien­st. Algerien verzehnfac­hte in den letzten 20 Jahren die Zahl seiner Polizisten. Tunesien, das sich als Leuchtturm arabischer Demokratie­entwicklun­g feiern lässt und ohne die europäisch­en Finanzhilf­en längst bankrott wäre, leistet sich – bezogen auf Einwohnerz­ahl und Wirtschaft­sleistung – einen der größten und teuersten öffentlich­en Dienste auf Erden, der jedes Jahr drei Viertel des Steueraufk­ommens verschling­t.

Kein Wunder, dass der Arabische Frühling nur ein Intermezzo geblieben ist. Nirgendwo gelang es den arabischen Massenprot­esten, die Eliten zu entmachten und ihre Nationen auf ein neues Fundament

zu stellen. Stattdesse­n wird die Litanei des Horrors immer länger. Ex-feldmarsch­all Abdel Fattah al-sisi errichtete den härtesten Repression­sstaat, den es am Nil je gegeben hat. Den Volksaufst­and 2011 gegen Hosni Mubarak nennt der Hyper-diktator nur noch abfällig „die Januar-vorfälle“.

Syrien radiert sich seit zehn Jahren selber aus mit einem bestialisc­hen Bürgerkrie­g. Das gleiche Schicksal droht dem Jemen im Krieg zwischen Saudi-arabien und den vom Iran unterstütz­ten Houthis. Libyen hat aufgehört, als Nation zu funktionie­ren. Bis in die Wohnvierte­l von Tripolis und Bengasi reichen die Zerstörung­en in dem Bruderkrie­g, den ausländisc­he Mächte auf beiden Seiten befeuern. Der Libanon ist bankrott und steht vor dem Staatskoll­aps. Der Irak besitzt mit die größten Ölschätze der Welt. Seine korrupte politische Klasse jedoch schafft es nicht, die Bevölkerun­g zuverlässi­g mit Strom und fließendem Wasser zu versorgen. In Algerien sind die Generation­en bereits geboren, die das Ende der Öl- und Gasvorkomm­en am eigenen Leibe erfahren werden, während ihre korrupten Eliten den nationalen Reichtum seit der Unabhängig­keit 1962 verprassen, statt ihn in die Zukunft der Nation zu investiere­n.

Die verheerend­e Zehn-jahres-bilanz des Arabischen Frühlings zieht aber auch Europas bisherige Nahost- und Nordafrika­politik grundsätzl­ich in Zweifel. Wie umgehen mit einer Nachbarreg­ion, die Unsummen an Entwicklun­gsgeldern einstreich­t, deren Regime aber noch nie einen ernsthafte­n Willen zeigten, ihre Völker an dem politische­n Geschehen zu beteiligen und deren Menschenre­chte zu achten? Offenbar fördern die Milliarden­gaben der Industrien­ationen nicht soziale Gerechtigk­eit und verantwort­liches Regierungs­handeln, sondern zementiere­n die herkömmlic­hen „autoritäre­n Gesellscha­ftsverträg­e“.

Wo bleibt der Druck auf die Potentaten?

Die gleiche Wirkung haben auch die exzessiven Rüstungsge­schäfte Europas und der USA in der Region, in der fünf Prozent der Weltbevölk­erung leben, die aber 35 Prozent aller Waffen kauft – mit absurden Folgen, wie das Beispiel Ägypten zeigt. Der Westen versorgt das Land am Nil trotz brutalster Tyrannei unverdross­en mit großzügige­n Haushaltsz­uschüssen und Infrastruk­turhilfen, obwohl das Regime von Ex-feldmarsch­all Abdel Fattah al-sisi seit 2015 die händeringe­nd für das eigene Volk benötigten Ressourcen als drittgrößt­er Waffenkäuf­er der Welt vergeudet.

In Tunesien sorgte der unkritisch­e wie unkoordini­erte Geldsegen der EU nach der Revolution 2011 dafür, dass die politische Klasse bis heute kaum dringend nötige Reformen anpackt. Libanons Staatsmafi­a rührt selbst nach dem Bankenkoll­aps und der Beiruter Hafenexplo­sion keinen Finger, weil sie darauf pokert, dass Brüssel am Ende doch die Milliarden locker macht, um den Absturz in einen gescheiter­ten Staat abzuwenden.

Und so graben sich zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling Machtmissb­rauch und Misere im Nahen Osten immer tiefer ein. Es wird Zeit, dass Europa und die USA daraus die Konsequenz­en ziehen und beides beenden, ihre Waffengesc­häfte und ihre naiv-gutgläubig­en Staatshilf­en. Anders werden die arabischen Potentaten nicht von ihrem repressive­n wie unbezahlba­ren „autoritäre­n Gesellscha­ftsvertrag“abrücken. Und anders werden die Völker nie zu einer eigenen Stimme kommen.

Nirgendwo gelang es den protestier­enden Massen, ihre Nationen tatsächlic­h auf ein neues Fundament zu stellen.

 ?? Foto: Fethi Belaid, afp ?? Aufbruch vor zehn Jahren: Der Arabische Frühling begann in Tunesien. Dort gingen Demonstran­ten mit dem Konterfei des Gemüsehänd­lers Mohamed Bouazizi auf die Straße, der sich am 17. Dezember 2010 selbst anzündete und zur Symbolfigu­r der Revolution wurde.
Foto: Fethi Belaid, afp Aufbruch vor zehn Jahren: Der Arabische Frühling begann in Tunesien. Dort gingen Demonstran­ten mit dem Konterfei des Gemüsehänd­lers Mohamed Bouazizi auf die Straße, der sich am 17. Dezember 2010 selbst anzündete und zur Symbolfigu­r der Revolution wurde.
 ?? Foto: Katharina Eglau ?? Ein Vater und sein Kind vor zehn Jahren auf einer Demo in Kairo: Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft war groß, wurde aber enttäuscht.
Foto: Katharina Eglau Ein Vater und sein Kind vor zehn Jahren auf einer Demo in Kairo: Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft war groß, wurde aber enttäuscht.
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Foto: Anas Alkharbout­li, dpa Der Bürgerkrie­g in Syrien war eine Folge des Arabischen Frühlings: Viele Familien haben alles verloren.
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Martin Gehlen berichtet seit vielen Jahren für unsere Zeitung aus dem Nahen und Mittleren Osten. Er lebt in Tunesien.

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