Kirchenklüngel unterm Kölner Dom
Der Vorwurf trifft einen mächtigen Gottesmann. Kardinal Woelki soll sexuelle Gewaltverbrechen nicht nach Rom gemeldet haben. Schuldig sind im Erzbistum auch andere.
Die Stimmung schwankt zwischen Fassungslosigkeit und Entsetzen. „Ich bin so wütend, ich kann mich kaum mehr bremsen“, sagt eine junge Frau. Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, spricht von einem „Desaster“. Gemeint sind die Vorgänge im Erzbistum Köln, wo Kardinal Rainer Maria Woelki dem Vorwurf der „Vertuschung“von sexuellen Gewaltverbrechen durch einen Düsseldorfer Priester ausgesetzt ist. Doch sich allein auf die Person des Kardinals zu konzentrieren, griffe zu kurz.
Der Blick geht zurück. In Köln kursieren immer wieder Vorwürfe gegen einen Priester aus Düsseldorf. Der 1929 geborene O. soll in den späten 70er Jahren einen Jungen im Kindergartenalter sexuell schwer misshandelt haben. Das Opfer selbst wendet sich 2010 an das Erzbistum. Der Mann schildert, was ihm als Kind vom beschuldigten Priester angetan wurde. Die Äußerungen müssen glaubwürdig gewesen sein. Denn wegen der Schwere der Tat überweist die Erzdiözese 15 000 Euro an das Opfer. Es ist das Dreifache dessen, was Bistümer als pauschale Summe in „Anerkennung des Leids“vereinbart hatten. Strafrechtlich ist die Tat 2010 verjährt. Doch im Kirchenrecht ist sie nicht vergessen. Schwere Vergehen von Geistlichen müssen nach Rom gemeldet werden, fordern das Kirchenrecht und die bischöflichen Leitlinien zum Umgang mit Fällen sexueller Gewalt. Doch in Köln geschieht: nichts.
Dem Vorwurf der Vertuschung muss sich heute nicht nur Kardinal Rainer Maria Woelki stellen. 2014 kehrt Woelki von Berlin als Erzbischof in das mächtige Bistum am Rhein zurück und lässt sich zu Beginn seiner Amtszeit Akten über beschuldigte Priester vorlegen. Auch der Fall des Düsseldorfer Priesters war darunter. Woelki kennt O. seit jungen Jahren.
Bei ihm war er Mitte der 80er Jahre Diakon. Ihm ist er bis zu dessen Tod 2017 verbunden. War es die Freundschaft zum Täter, die dazu führte, dass Woelki die Vorwürfe gegen O. pflichtwidrig nicht nach Rom meldete? Schon aus seiner Zeit als Weihbischof von Köln mussten ihm die Anschuldigungen zu Ohren gekommen sein. Woelki nennt andere Gründe: die schlechte Gesundheit des Beschuldigten sowie den fehlenden Mitwirkungswillen des Opfers. Einer Aussage, der der Betroffene in dieser Absolutheit inzwischen widerspricht.
So oder so: „Die Begründung ist perfide“, sagt der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller gegenüber unserer Zeitung. Der Kardinal beweise damit, dass er keine Ahnung habe, was für Folgen eine Begegnung eines Opfers sexualisierter Gewalt mit dem Täter habe. „Wieder wird ein Opfer vom Kardinal schändlich instrumentalisiert, um von eigenen schweren Fehlern abzulenken.“Auch der Tübinger Kirchenrechtler Bernhard Anuth ist der Auffassung, dass das Kirchenrecht keinen Ermessensspielraum bietet.
Doch warum bleibt ein Täterpriester dann unbehelligt? In Köln breitete ein System den Schutzmantel über dem Beschuldigten aus. Nach dem vermutlich auch in anderen Diözesen geltenden Motto „Institution first“entschied sich die Kölner Kirchenspitze, den Schutz des Täters über den Schutz des Opfers zu stellen: Woelkis Vorgänger, der 2017 verstorbene Kardinal Joachim Meisner schwieg. Dessen rechte Hand, der oberste Verwaltungschef der Diözese, Dominikus Schwaderlapp, entzog sich der Verantwortung. Der heutige Weihbischof Schwaderlapp war zwischen 2004 und 2012 als Generalsekretär mit allen wichtigen Personalien vertraut. „Indifferent“auch dessen Nachfolger Stefan Heße, der 2015 von Köln als Erzbischof nach Hamburg berufen wurde. Ihn hatte „Die Zeit“bereits im September mit dem Vorwurf der Vertuschung konfrontiert. Doch Heße konnte kein Versäumnis erkennen und wollte als möglicherweise vergleichsweise kleines Rad nicht die Verantwortung für das gesamte Kölner Getriebe übernehmen.
Es ist auffällig, dass gerade das so mächtige Erzbistum Köln jetzt im Strudel versinkt. Dabei glaubte die Bistumsspitze, mit einem schlagkräftigen Netzwerk teurer Berater den Informationsfluss über Fehler und Versäumnisse steuern zu können. Der Versuch ist schon im Umgang mit dem von Woelki zurückgehaltenen Missbrauchsgutachten der Münchner Anwaltskanzlei „Westpfahl Spilker Wastl“gescheitert. Im nun publik gewordenen Vertuschungsfall könnte der Kölner Kardinal zur tragischen Figur werden. „Woelki wird mehr geführt, als dass er führt“, sagen Kölner Insider über die Wankelmütigkeit des Kardinals. Tatsächlich
scheint in der Rheinmetropole ein Domkapitel Regie zu führen, dem enge Verbindungen zum reaktionären Netzwerk Opus Dei nachgesagt werden. Schwaderlapp selbst räumt diese Nähe offen ein, wenngleich er angibt, kein Mitglied dieses Laienbündnisses zu sein. Vom traditionell liberalen rheinischen Katholizismus jedenfalls hat sich die Bistumsspitze weit entfernt. „Das Schlimmste für Köln wäre, wenn nur Kardinal Woelki ausgetauscht würde“, heißt es in Köln.
Der wegen seiner konservativen Positionen gerade in Rom geschätzte und dort bestens vernetzte Kardinal hofft nun auf einen Entscheid des Papstes. Der solle prüfen, ob er, Woelki, „nach kanonischem Recht eine Pflichtverletzung begangen habe“. Den vorgeschriebenen Weg, wonach zuerst in Deutschland Vorermittlungen erfolgen müssen, umging Woelki. „Diese Flucht unter den Mantel des Papstes ist ein plumpes Manöver und beweist, dass der Kardinal nicht sein Gewissen befragen und seine Schuld eingestehen will. Er delegiert seine Verantwortung an den Papst“, kommentiert Kirchenrechtler Schüller.
Doch auch in Deutschland laufen mittlerweile kirchenrechtliche Voruntersuchungen. Der zuständige Münster Bischof Felix Genn hat sie eingeleitet und darüber auch den römischen Nuntius in Deutschland, Nikola Eterovic, informiert.
Den Unmut unter den Gläubigen bremst das nicht. „Es herrscht Wut, es herrscht Enttäuschung, es herrscht Resignation, und das hat leider auch die Mitte unserer aktiven Gläubigen erreicht“, sagt der Vorsitzende des Katholikenausschusses Köln, Gregor Stiels. Auch der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, äußert sich bestürzt. Sollte es in Köln ein Fehlverhalten des Erzbischofs gegeben haben, sei die „Übernahme von Verantwortung eine Selbstverständlichkeit“. Schüller pflichtet ihm bei: „Der Kardinal sollte seine schweren Fehler zugeben und dem Papst seinen Rücktritt anbieten. Damit würde er dem Erzbistum Köln und seinen Gläubigen, aber auch der ganzen katholischen Kirche in Deutschland einen letzten, notwendigen Dienst erweisen.“
Das Schlimmste für Köln wäre, wenn nur Kardinal Woelki ausgetauscht würde.
Bistum glaubte, mit teuren Beratern den Informationsfluss steuern zu können.