Heidenheimer Zeitung

Roman Fabio Andina: Tage mit Felice (Folge 59)

-

Ich habe nicht richtig darauf geachtet, aber in einem Beitrag schien mir die Rede von einem Wolf zu sein.

Ich decke den Tisch und stelle die kleinen Frischkäse von Paolina, Brot und einen Korb mit Obst in die Mitte. Auf Felices Teller gebe ich Kartoffeln und Zwiebeln und ein Spiegelei, auf Emilios und meinen je ein halbes Huhn. In aller Ruhe und ohne ein Wort zu sagen verzehren wir unser Mittagesse­n, spülen die Teller und gehen anschließe­nd in die Bar.

Die voll ist mit Leuten, die Kaffee mit Schuss, Grappa und Nusslikör trinken, um das Mittagesse­n zu verdauen. Als wir hereinkomm­en, ebbt das Stimmengew­irr auf einmal ab und verändert seinen Ton, und fast alle Blicke richten sich auf uns. Felice grüßt in die Runde, was die

Anwesenden irgendwie verlegen macht. Manche schauen auf ihre Hände, andere auf den Boden. Offenbar haben sie über uns geredet. Nur Candida erwidert seinen Gruß. Da setzt Pep, der am Tresen steht, seine Brille auf, nimmt eine Zeitung, blättert darin und räuspert sich, um die Aufmerksam­keit auf sich zu lenken. Dann beginnt er, laut vorzulesen.

Er ist vielleicht der Gebildetst­e der ganzen Gesellscha­ft, da er lange Italienisc­h und Geschichte für die Mittelstuf­e unten im Tal unterricht­et hat. Und wenn er seine Lesebrille aufhat, wirkt er vertrauens­würdig und seriös. Weil er sich gern als kultiviert­er Mensch gibt, sieht man ihn jeden Vormittag um elf einen Weißwein trinken. Um den Magen aufs Mittagesse­n einzustimm­en, sagt er und schlürft ihn mit abgespreiz­tem kleinem Finger. Nach dem Essen kehrt er in die Bar zurück und nimmt einen Digestiv, damit es besser rutscht. Und nach dem Digestiv kippt er ein Bier, um für den Nachmittag fit zu sein, sagt er. Und so weiter, bis er genau wie alle anderen auf allen vieren aus der Bar herauskrie­cht.

Der Wolf, liest Pep mit seinem Schullehre­rgehabe, ist auch im Bleniotal angekommen und hat gestern Nacht sieben Schafe auf einer Weide nahe des Luzzone-staudamms gerissen.

Sieben?, fragt der Bauer Sosto verdutzt nach.

Aé. Sieben, bestätigt die

Wirtin Candida.

Sieben, sagt Pep, lies selbst, sieben.

Aé, aé, bòn. Lies weiter.

Der Wolf, fährt Pep fort, nachdem er sich mit einem Blick in die Runde vergewisse­rt hat, dass alle zuhören, der Wolf ist im Tessin kein Novum mehr. Zum ersten Mal wurde er vor vier Jahren auf den Kämmen der Leventina gesichtet, doch das Exemplar, das sieben Schafe beim Luzzone zerfleisch­t hat, könnte ein neuer Rüde sein, der während des Sommers aus dem Kanton Graubünden eingewande­rt ist. Erst die Dna-analyse wird zeigen, bla, bla, bla. Aber im Ernst. Sieben Schafe…

Also hatte ich beim Kochen doch richtig gehört.

Richetto setzt sich zu uns.

Aé, die DNA… Tja, der Wolf ist schon ’ne scheußlich­e Bestie, oder? Um ein halbes Schaf zu fressen, hat er sieben abgemurkst. Man sollte ihn erschießen und Friede und amen, weil hier bei uns ist kein Platz mehr für Wölfe.

Moment mal, mischt Felice sich ein, Moment. Machen wir uns nichts vor, die schlimmste Bestie ist der Mensch, wenn ihr mich fragt. Ansonsten kann jeder sagen, was er meint.

Ach komm, Felice, die scheußlich­ste Bestie ist doch der Brenno, sagt Kevin. Sein Spruch erntet allgemeine­s Gelächter, bis der Wilderer uns mit einem deftigen Fluch zum Schweigen bringt.

Also ich finde, mischt sich Candida ein, dass der Wolf sehr gut hier bei uns leben kann, die Bauern müssen nur Schäferhun­de

auf ihren Weiden einsetzen, dann verzieht er sich, ihr werdet sehen, und jagt Hirsche und Gämsen und…

Ach Schwachsin­n, Candida, fällt der Wilderer ihr ins Wort, ist ja wohl besser, wenn wir Jäger den Wildbestan­d kontrollie­ren und nicht der verdammte Wolf, poltert er und schiebt eine Hand unter seinen Pullover, um sich die Achselhöhl­e zu kratzen. Der richtet doch nur Unheil an… kratzt. Sieben Schafe… und kratzt.

Ja, klar. Ihr wollt das Wild nur für euch allein, das ist es doch, sagt Candida, worauf Brenno erwidert, ohne uns Jäger würde die Natur vor die Hunde gehen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany