Heidenheimer Zeitung

„Wir müssen die Alten wirksam schützen“

Der streitbare OB wird für den „Tübinger Weg“in der Corona-krise viel gelobt. Ein Gespräch über das Rechthaben, folgenschw­ere Versäumnis­se der Politik und den Schmerz, den ein zerrüttete­s Verhältnis zwischen ihm und seiner Partei mit sich bringt.

- Von Roland Müller

Im Frühjahr gehörte Boris Palmer wegen seines Satzes „Wir retten möglicherw­eise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“zu den meistgehas­sten Politikern Deutschlan­ds – nun ist der Tübinger Oberbürger­meister Dauergast in Talkshows, und der „Tübinger Weg“gilt als vorbildlic­h für den Schutz älterer Menschen in der Corona-krise. Was Außenstehe­nde als erstaunlic­he Wandlung sehen, ist für den Grünen ganz logisch. Im Skype-gespräch kritisiert er Fehler der Corona-politik – und wirbt für eine Aussöhnung mit seiner Partei.

Herr Palmer, Sie haben sich früh offensiv in die Corona-debatte eingemisch­t. Wer Sie kennt, weiß, dass Rechthaben für Sie nicht ganz unwichtig ist. Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie sehr fühlen Sie sich heute bestätigt?

Gemeine Frage – aber mindestens 9.

Warum?

Weil wir jetzt in einen zweiten Lockdown gestolpert sind, den niemand wollte. Das ist extrem ineffizien­t: Kontakte müssen allen verboten werden, obwohl 99 Prozent der Leute gar nicht infiziert sind. Und wie wir da wieder rauskommen, weiß im Moment auch niemand so recht zu sagen. Meine Kernthese war dagegen: Wir müssen gezielter vorgehen und die Eigenschaf­t des Virus, die Jungen weitgehend zu verschonen, zu unserem Vorteil nutzen. Jemand, der über 80 Jahre ist, hat ein 500-fach höheres Risiko, an Corona zu sterben als Menschen unter 40. Wenn es uns gelingt, die Alten wirksam zu schützen, kann man Schulen und Kitas offen lassen und die extremen Schäden eines langen Lockdowns an Wirtschaft und Gesellscha­ft klein halten.

In Tübingen werden schon seit September regelmäßig Tests in Altenheime­n gemacht, es gibt subvention­ierte Ruftaxen für Ältere und Appelle für reserviert­e Einkaufsze­iten. Sie haben das als Modell für ganz Deutschlan­d angepriese­n. Nun gibt es doch Ausbrüche in Pflegeheim­en. War der Erfolg des „Tübinger Wegs“nur eine Fata Morgana?

Ich empfehle, da genau hinzuschau­en. Wir hatten tatsächlic­h lange Zeit keine Ausbrüche in Tübinger Altenheime­n, als es in Baden-württember­g schon tausende solcher Fälle gab. Zu sagen, weil wir jetzt Ausbrüche in drei Heimen haben, hat alles nix genützt, wäre falsch. Zwei Ausbrüche konnten wir durch das engmaschig­e Testen früh erkennen – vor Symptombeg­inn, so dass die Infektion in einem Heim bisher auf niemanden weitergetr­agen wurde, im anderen Heim die meisten Bewohner verschont hat. Das ist ja genau der Sinn unserer Strategie.

In einem dritten Heim sind aber nun 35 Bewohner und 11 Beschäftig­te infiziert.

Das ist kein städtische­s Heim, sondern ein privates. Der Betreiber sagt, er habe keine Schnelltes­ts. Dabei haben Stadt und DRK mehrfach angeboten, so viele Tests zu besorgen, wie die Heime brauchen. Wir prüfen, warum diese Info nicht ankam.

Also ist der „Tübinger Weg“kein Wundermitt­el, hat aber aus Ihrer Sicht etwas gebracht?

100-prozentige Sicherheit gibt es auch durch unsere Strategie nicht. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wir durch regelmäßig­es Testen seit September Ausbrüche verhindern oder eingrenzen konnten. In mehreren Fällen sind Infektione­n von Pflegepers­onal aufgespürt worden, bevor Bewohner angesteckt wurden. Das ist die entscheide­nde Barriere. Außerdem kommt es nicht von ungefähr, dass Bund und Länder vor einer Woche vereinbart haben, solche Tests in Heimen verpflicht­end anzuordnen.

Ist es dafür jetzt nicht reichlich spät?

Es ist die richtige Maßnahme. Was mich ärgert, ist, dass das viele Monate nicht nur verschlepp­t, sondern aktiv verhindert und abgelehnt wurde. Mit unserer Forderung, diese Tests in Heimen regelmäßig ohne konkreten Anlass durchzufüh­ren, sind die Tübinger Pandemiebe­auftragte Lisa Federle und ich immer wieder abgeblitzt und haben dann halt beschlosse­n, dass wir es auf eigene Faust machen. Wir waren mit unserem Start im September genau rechtzeiti­g vor der zweiten Corona-welle dran. Flächendec­kend wird es leider erst jetzt umgesetzt, wo schon viele tausend Menschen gestorben sind. Mit medizinisc­hen Schutzmask­en ist es ja auch so: Die haben wir wie Bremen schon Anfang November an alle Senioren verschickt, der Bund bringt sie erst jetzt in die Apotheken.

Also, siehe oben, Boris Palmer hatte mal wieder Recht?

Der „Tübinger Weg“war so nur möglich, weil wir hier mit der Cegat ein Labor haben, das die Tests binnen 24 Stunden auswerten kann und uns im Preis sehr entgegenka­m. Und wir mit Lisa Federle eine sehr engagierte Notärztin haben, die mit ihrem Arztmobil jeden Tag an einem anderen Heim zum Testen Station machte. Dafür hat sie zu Recht das Bundesverd­ienstkreuz bekommen. Billig war das alles übrigens nicht: Wir haben eine halbe Million Euro aus der Stadtkasse für unser Schutzkonz­ept bereitgest­ellt, und das vor einer drohenden Finanzkris­e. Dazu braucht man einen mutigen Gemeindera­t, und ich bin sehr dankbar, dass alle Fraktionen hinter der Initiative stehen.

Ob man Risikogrup­pen speziell schützen soll, statt alle Menschen einzuschrä­nken, ist in der Corona-debatte sehr umstritten. Warum hat die Politik so davor zurückgesc­hreckt?

Weil es unpopulär war. Differenzi­erung wurde mit Diskrimini­erung verwechsel­t. Ich habe von alten Menschen übelste Beschimpfu­ngen per Mail bekommen, der Landesseni­orenrat hat sich empört, weil wir alten Menschen Ruftaxen zum Buspreis oder Einkaufsze­iten reserviere­n wollten. All das sei Diskrimini­erung der Älteren. Dabei ist es umgekehrt: Wenn ich Menschen mit 500-fach erhöhtem Todesrisik­o gleich behandle wie 20-Jährige und ihnen keinen besseren Schutz biete, ist das die Diskrimini­erung. Aber der Debatte wollte man sich nicht stellen.

Aber auch Experten wandten sich dagegen.

Nicht alle: Der Virologe Hendrik Streeck wirbt für den Schutz von Risikogrup­pen, und sein Kollege Alexander Kekulé hat mit mir und anderen dazu schon im April einen Aufruf im „Spiegel“geschriebe­n.

Das wissenscha­ftliche Gegenargum­ent war, es sei sowieso unmöglich, vulnerable Gruppen zu schützen, also könne man es gleich lassen. Ich finde, damit darf man sich nicht abfinden. Man muss dann zumindest versuchen, so viel zu erreichen wie möglich, statt gar nichts zu tun.

Zeigt die zweite Welle nicht, dass man sowieso beides braucht: Allgemeine Maßnahmen plus Schutz der Risikogrup­pen?

Es sind sogar drei Säulen: Die erste ist die Kontaktver­folgung. Wenn die gut funktionie­rt, brauche ich die anderen gar nicht, weil das Virus sich nicht ausbreiten kann. Südkorea und Taiwan haben sich entschiede­n, sich lieber vor Viren zu schützen, anstatt, wie wir, ihre Daten vor dem Staat zu verstecken. Bei uns geht der Datenschut­z so weit, dass Gesundheit­sämter in 75 Prozent der Fälle nicht wissen, wo sich die Menschen anstecken. Das ist absurd. Die zweite Säule ist der effektive Schutz der Risikogrup­pen. Erst wenn die beiden Säulen nicht mehr tragen, sollte man zum Lockdown greifen, der jede Woche 50 Milliarden Euro kostet, schwere Schäden verursacht und extreme Eingriffe in unsere Grundrecht­e bedeutet. Dass wir die anderen beiden Säulen nicht mal im Rohbau fertig haben, halte ich für den eigentlich­en Fehler.

Jetzt müssen wir noch einmal auf Ihren Satz vom April kommen...

Ja, der unselige Satz.

Es hieß, Sie wollten alte Menschen sterben lassen, es gab heftige Kritik, die Grünen forderten Sie zum Austritt auf. Jetzt erhalten Sie Anerkennun­g für den Schutz älterer Menschen. Wie passt das zusammen?

Wer das Interview anschaut, wird sehen, dass ich schon damals nichts anderes gemeint habe. Mit dem Lockdown retten wir Menschen, die bei uns eine niedrige Lebenserwa­rtung haben – opfern aber durch wirtschaft­liche Folgen Kinder in armen Ländern des Südens; die Welthunger­hilfe schätzt, dass Lockdown-folgeschäd­en bis zu 130 Millionen Menschen in den Hunger getrieben haben. Dieses ethische Dilemma wollte ich benennen. Aber nicht, um bei uns die Alten sterben zu lassen, sondern es aufzulösen mit der Forderung, sie effektiver, besser zu schützen. Dass das so massiv missversta­nden werden konnte, gehört zu den frustriere­ndsten Erfahrunge­n des Jahres.

Ist es nicht seltsam, dass die Äußerung ein Riesen-skandal war – und als im Herbst das echte Sterben in schlecht geschützte­n Heimen begann, war das dann halt so?

Es hat mich schon irritiert, dass das einfach so hingenomme­n wird. Als wir im September mit unseren Tests in Heimen begonnen haben, hat das außer regionalen Medien niemanden interessie­rt. Obwohl doch klar war, dass, wenn wir nichts tun, in der zweiten Welle viele Menschen sterben werden. Ich glaube, dass wir uns in unseren Debatten viel zu oft über gesinnungs­ethische Fragen empören und die Verantwort­ungsethik ignorieren. Statt den Debattenra­um mit moralisier­enden persönlich­en Vorwürfen über falsch verstanden­e Halbsätze zu füllen, sollten wir danach urteilen, was jemand macht. Oder biblisch gesprochen: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“

Im Sommer haben die Grünen Sie zum Austritt aufgeforde­rt, zuletzt sprachen Sie öfter von „Versöhnung“. Geht da noch was?

Es tut schon weh, wenn die eigenen Leute sagen, wir wollen nicht mehr, dass Du zu uns gehörst. Besonders weil ich überzeugt bin: Wer nach jetzt 14 Jahren meiner Amtszeit nach Tübingen kommt und die konkreten Ergebnisse der Stadtpolit­ik besichtigt, der wird feststelle­n, dass das grüne Programm an kaum einem anderen Ort so real geworden ist wie bei uns. Dass hier Ökonomie und Ökologie wirklich versöhnt werden, wir im Klimaschut­z ebenso vorneweg marschiere­n wie bei der Entwicklun­g moderner Impfstoffe. Da könnte man als Grüner eigentlich sagen, das ist ein Aushängesc­hild für uns als Partei. Ich würde auch gern helfen im anstehende­n Landtagswa­hlkampf.

Versöhnung heißt ja, dass beide Seiten sich bewegen müssten – auch Sie. Ist das realistisc­h? Fehler einzugeste­hen oder nachzugebe­n gilt nicht gerade als Ihre Stärke ...

Da haben Sie Recht. Für das Ziel, mit meiner Partei wieder an einem Strang zu ziehen, werde ich mir das abverlange­n.

2022 steht die Ob-wahl in Tübingen an. Viele Beobachter gehen davon aus, dass Sie wieder antreten wollen. Wollen Sie?

Bei der Frage spielt es schon eine Rolle, ob es mir zumindest gelingt, die Tübinger Grünen zu überzeugen, mit mir ein drittes Mal ins Rennen zu gehen. Gegen die Partei anzutreten, müsste ich mir reiflich überlegen. Was wir auf den Weg gebracht haben, insbesonde­re das revolution­äre Klimaschut­zprogramm, das Tübingen bis 2030 klimaneutr­al machen soll, wäre es schon wert, noch einmal durchzusta­rten. Außerdem sollten wir es uns als Grüne nicht leisten, nach Stuttgart und Freiburg auch Tübingen zu verlieren. Mit den Leistungen der stärksten Fraktion und des Amtsinhabe­rs gemeinsam in die Wahl zu gehen, scheint mir da die klügste Strategie.

Regelmäßig­e Tests in Altenheime­n wurden über Monate nicht nur verschlepp­t, sondern aktiv verhindert und abgelehnt.

Es tut schon weh, wenn einem die eigenen Leute sagen, wir wollen nicht mehr, dass Du zu uns gehörst.

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Foto: ULMER Pressebild­agentur „Dass das so massiv missversta­nden werden konnte, gehört zu den frustriere­ndsten Erfahrunge­n des Jahres“, sagt der Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer über seine Äußerungen im Frühjahr.
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