Die Eroberung des Äthers
Seit 100 Jahren ist das Radio Informationsquelle und Begleitmedium. Am 22. Dezember 1920 senden Postbeamte aus Königs Wusterhausen das erste Programm – ein Weihnachtskonzert.
Tausende Fußballfans strömen am 1. November 1925 zum Münstermannplatz in Münster. Es ist Sonntag, Allerheiligen. Gegen 14.30 Uhr wird die Begegnung zwischen SC Preußen Münster und Arminia Bielefeld angepfiffen. Auch Bernhard Ernst ist bereit. Der 26-jährige Sportreporter der Westdeutschen Funkstunde steht hinter einem der Tore. Sein unförmiges Mikrofon ist an einem mit Maschendraht versehenen Hockeytor befestigt. Von dort führt ein Kabel bis zum Funkhaus; hinzu kommt noch eine einfache telefonische Meldeleitung für das technische Personal.
Doch als Ernst die ersten Sätze ins Mikrofon sprechen will, geht keines seiner Worte über den Sender. Das Übertragungskabel ist tot! Geistesgegenwärtig drückt ein Techniker dem Reporter den Telefonhörer der Meldeleitung in die Hand. Tatsächlich gelingt es Ernst, die fast zweistündige Sendung bis zum Ende zu kommentieren – via Telefon. Dagegen gibt es für die heimische Elf keinen Grund zur Freude: Die Preußen verlieren 0 : 5!
Für den Rundfunk erweist sich die Reportage aus Münster – das erste im deutschen Radio live übertragene Fußballspiel – als wegweisend. Doch die Eroberung des Äthers begann woanders – im brandenburgischen Nauen. Dort errichtet 1906 die Telefunken Gesellschaft für drahtlose Telegraphie eine Versuchsstation mit riesigen Antennen. Bereits 1911 gelingt eine Funkverbindung mit der 4800 Kilometer entfernten Station Kamina in der deutschen Kolonie Togo in Westafrika, drei Jahre darauf erreichen die Signale
das 8350 Kilometer entfernte Windhoek in Deutsch-südwestafrika. Dabei strahlt die Großfunkstelle zunächst kein Radioprogramm aus: Es werden vor allem Wirtschafts- und Pressenachrichten, diplomatische Depeschen sowie Telegramme via Morsecode ausgetauscht, auch verschlüsselte militärische Botschaften.
Derweil rückt eine weitere märkische Stadt ins Rampenlicht und wird schließlich zur Wiege des deutschen Rundfunks: Königs Wusterhausen. Ab 1911 erfolgen auf dem Windmühlenberg erste erfolgreiche Versuche mit mobilen Sendern, die auf Pferdefuhrwerken montiert sind. Als Antennen dienen Drahtseile, die an Ballons befestigt sind. Die Technik wird anfänglich militärisch genutzt – als Zentralfunkstelle des Deutschen Heeres. Nach dem Krieg übernimmt 1919 die Deutsche Reichspost die Anlage. Die nun zivile Hauptfunkstelle wird für kommerzielle Börsen- und Wetternachrichten umgerüstet.
Prägende Gestalt ist Hans Bredow, Ministerialdirektor im Reichspostministerium. Dem studierten Elektrotechniker schwebt schon bei Feldversuchen zu Kriegszeiten vor, Sprache und Musik zu senden. Auf seine Anregung hin beginnen Ingenieure der Reichspost im Frühsommer 1920 in Königs Wusterhausen mit Experimenten im Längstwellenbereich. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten, Töne in elektrische Schwingungen umzuwandeln, macht das Verfahren Fortschritte. Bis es vor 100 Jahren, am 22. Dezember 1920, zu einem denkwürdigen Ereignis kommt.
„Hallo, hier ist Königs Wusterhausen auf Welle 2700. Meine Damen und Herren, zum Zeichen, dass unsere Station jetzt großjährig geworden ist und nicht mehr als Versuchskarnickel dienen wird, wollen wir Ihnen ein kleines bescheidenes Weihnachtskonzert senden.“Mit diesen Worten meldet sich um 14 Uhr die Hauptfunkstelle der Reichspost im Äther. An jenem Mittwoch, zwei Tage vor Heiligabend, läuten musizierende Postbeamte mit dem Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“das Rundfunkzeitalter ein. Zu diesem
Zweck wird im Senderhaus 1 eigens ein provisorisches Studio eingerichtet. Die kleine Kabine bietet gerade Platz für die Laienmusiker mit ihren Instrumenten – Harmonium, Geige, Cello, Klarinette, Klavier. Neben live gespielten Klängen gibt es auch Musik vom Grammophon. Dieses Weihnachtskonzert, das vor allem im Ausland empfangen werden kann, gilt als erste deutsche Radiosendung. In Deutschland selbst ist 1920 das Abhören der Funkwellen durch Privatleute verboten. Dennoch dürfte es auch hier viele (Schwarz-)hörer geben, die mittels selbstgebastelter Detektorempfänger und als Wäscheleine getarnte Langdrahtantennen heimlich das Programm aus Königs Wusterhausen verfolgen.
Doch bis zur offiziellen Einführung des Rundfunks müssen sich die Hörer bis 1923 gedulden. Dann geht es schnell. Ab dem 19. September wird im Dachstuhl des Berliner Vox-hauses am Potsdamer Platz, dem Sitz des Schallplattenkonzerns Vox, ein „laboratoriumsmäßiger“Sender eingerichtet. Der Aufnahmeraum ist in der dritten Etage. Es wird improvisiert. Die auf dem Dach montierte Antenne zieht sich über mehrere Gebäude.
Dann ordnet Radiopionier Bredow, inzwischen Staatssekretär im Reichspostministerium, am
Vormittag des 29. Oktober den Programmstart noch am selben Tag an. Um 20 Uhr knistern die ersten Worte durch den Äther: „Achtung, Achtung, hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-haus auf Welle 400 Meter. Meine Damen und Herren! Wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt.“Und schon im nächsten Satz heißt es: „Die Benutzung ist genehmigungspflichtig.“Ironie der Geschichte: Zu diesem Zeitpunkt gibt es keinen einzigen angemeldeten privaten Rundfunkhörer. Erst zwei Tage später erhält der Tabakwarenhändler Wilhelm Kollhoff aus Berlin-moabit die Rundfunkempfänger-lizenz Nr. 1. Seine Jahresgebühr beträgt aufgrund der Hyperinflation 350 Milliarden Reichsmark!
Der Berliner Wilhelm Kollhoff ist der erste offizielle Rundfunkhörer.
Berühmt wird ein anderer
Knapp 30 Jahre nach dem Westfalen-derby 1925 schreibt Reporter Ernst erneut Geschichte – nur ist das heute kaum bekannt. Als am 4. Juli 1954 in Bern das deutsche Fußballteam im Wm-finale die Ungarn mit 3 : 2 besiegt, spricht Ernst den Live-kommentar zu den Fernsehbildern. Doch die können nicht aufgezeichnet werden, auch die Tonspur ist verschollen. So wird ein anderer mit den Tv-bildern des „Wunders von Bern“berühmt: Herbert Zimmermann, der das Endspiel im Radio kommentiert. Seine überschäumende Stimme beim Abpfiff („Aus, aus, aus – aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“) wird über die Aufnahmen des Fifa-films gelegt . . .