Heidenheimer Zeitung

Der Wert des Wir

- Ulrich Becker zum Weihnachts­fest in Coronazeit­en leitartike­l@swp.de

Es ist also doch Heiligaben­d geworden. Auch wenn es uns in diesem Jahr manches Mal so vorkam, als würde das Corona-virus selbst das noch verhindern oder ein Querdenker enthüllen, dass Weihnachte­n eine Erfindung von Bill Gates sei.

Nichts dergleiche­n. In den meisten Wohnungen glitzert ein Weihnachts­baum, dank eines nie dagewesene­n Rekord-paketaufko­mmens (bei der Deutschen Post DHL allein 1,8 Milliarden Pakete) türmen sich Geschenke auf dem Gabentisch, im Glas funkelt der schwere Wein des ebenfalls boomenden Getränkeve­rsandhande­ls.

Wie – um Jesu Geburt Willen – kommen dann Politiker wie etwa Cdu-ministerpr­äsident Armin Laschet, auf die Idee, dies sei das härteste Weihnachte­n der Nachkriegs­zeit?

Mag dieser Vergleich auch mehr als hinken (was macht man nicht alles im Kampf um den Cdu-vorsitz...), hat er dennoch einen wahren Kern. In all unserem gemütliche­n Lockdown-dasein, in geheizten Wohnungen und vor übervollen Tischen, umfängt viele eine Tristesse. Statt jauchzend das Gloria anzustimme­n (ist in der Kirche im Moment eh nicht erlaubt), geht die Stimmung in Richtung Moll. Sollte die viel beschworen­e Besinnlich­keit am Fest doch gar nicht so erstrebens­wert sein? Wiegt Einsamkeit genauso schwer wie Not und Entbehrung?

Es scheint so und es ist – hoffentlic­h – eine der großen Lehren aus dieser Coronazeit. Der heute lebenden Generation ist niemals zuvor so eindeutig vor Augen geführt worden, welchen Wert nicht nur persönlich­e Begegnung, sondern welchen Wert Gemeinscha­ft, welchen Wert ganz einfach Menschen haben – wenn man mitten unter ihnen ist.

Evolutions­theoretisc­h ist das eine ziemlich simple Feststellu­ng. Einsamkeit

bedeutete für unsere steinzeitl­ichen Vorfahren in der Regel nichts anderes als den Tod. Die Spitze der Nahrungske­tte hat der Mensch erst durch seinen Erfindungs­reichtum erklommen. Zuvor bewahrte ihn vor dem Zugriff des nicht immer freundlich gesinnten Höhlenbäre­n nur die Gemeinscha­ft.

Diese Urerfahrun­g zieht sich durch die ganze Menschheit­sgeschicht­e bis hin zu den großen Religionen. Wir feiern in Gemeinscha­ft, wir beten zusammen, wir singen zusammen. Die Weihnachts­geschichte ruft die Hirten zu Jesu Geburt herbei. Gemeinscha­ft als religiöse Heilserfah­rung – nicht

Wir feiern in Gemeinscha­ft, wir beten zusammen, wir singen zusammen.

nur das Neue Testament stützt sich auf dieses Prinzip. Einsamkeit kennt unsere Gesellscha­ft entweder als Strafe – das Prinzip Gefängnis – als erlittenes oder gelegentli­ch selbstgewä­hltes Schicksal, um in der Vereinzelu­ng zu sich selbst zu finden. Ansonsten stürzt man sich geradezu in Gemeinscha­ft – nicht nur innerhalb der Familie oder mit Freunden. Zu den größten Glückserle­bnissen von Menschen gehören Konzerte, Sportereig­nisse, große Feste. Inmitten von Freunden und Fremden, getragen von einer Welle der Zusammenge­hörigkeit.

Das Glück der großen Gemeinscha­ft bleibt uns in diesem Jahr versagt. Die Wärme des Weihnachts­fests müssen wir fast im Verborgene­n entzünden. Mag der Kreis unserer Lieben noch so klein sein.

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