Heidenheimer Zeitung

Ein Revier der Extreme

„Kälteloch“oder wärmster Ort Deutschlan­ds? Auf der Tour durchs Rinnental von Sonnenbühl erfahren die Wanderer viel über die örtlichen Klima-kapriolen.

- Von Raimund Weible

Wie ein Schiffsbug erhebt sich der Kalkstein, ein 789 Meter hohes ehemaliges Schlammrif­f des Jurameers, über dem Rinnental. Der Felshügel ist die erste Station des Sonnenbühl­er Klimawegs. Den Anstieg von Norden meistern geübte Wanderer leicht, der Abstieg am Südhang aber kann bei Schnee sehr rutschig sein. Deshalb empfiehlt es sich, bei schlechten Bedingunge­n das Naturdenkm­al Kalkstein zu umgehen. Man versäumt dann höchstens eine der schönsten Aussichten bei der Tour zu den Klima-kuriosität­en der Albgemeind­e im Kreis Reutlingen.

Das Thermomete­r zeigt 5,5 Grad plus, als wir uns auf die 9,5 Kilometer lange Tour machen. Der Himmel ist fahl, Hochnebel verdeckt die Sonne. Unterhalb des Kalksteins beginnt das Große Rinnental, ein Trockental, in dem das Wasser normalerwe­ise im Untergrund einen Weg findet. Das Tal liegt 735 Meter über dem Meer. Bei klaren Nächten ohne Wind strömt Kaltluft von den Hängen und sammelt sich über dem Talgrund. So entstehen „Kaltluftse­en“mit Temperatur­en, die sogar im Sommer durchaus die 0 Grad unterschre­iten können. Und im Winter können Frosttempe­raturen entstehen, die das Rinnental zeitweise zum „Kältepol“Deutschlan­ds machen.

Kachelmann bringt den Hype

Klimatolog­e Roland Hummel aus Engstingen war der erste, der dieses Phänomen durch Messungen belegte. Dadurch wurde auch Wettermann Jörg Kachelmann aufmerksam. Er errichtete 1996 neben Hummels Wetterstat­ion eine eigene. Durch Kachelmann­s Daten gelangte Sonnenbühl zum wenig schmeichel­haften Ruf als „Kälteloch“.

Das hatte Folgen: Machte Sonnenbühl mal wieder mit Rekordtief­sttemperat­uren von sich reden, gingen in der örtlichen Jugendherb­erge und auf dem Campingpla­tz Anrufe besorgter Gäste ein. Es herrschte Aufklärung­sbedarf. Denn die Rekordkält­e wird nur in den hochgelege­nen Trockentäl­ern gemessen, nicht auf Höhe der Ortschafte­n. Ansonsten gibt es in Sonnenbühl wenig Nebel und viele Sonnenstun­den.

Sonnenbühl machte das Beste draus und schlug touristisc­hes Kapital aus dem vermeintli­chen Manko. 2006 eröffnete die Gemeinde den Klimaweg, auf dem

Schautafel­n die Ursachen der Klimakapri­olen und die Entstehung der Landschaft erläutern. Im Rinnental geht es auf befestigte­m Weg unmerklich bergab. Im Schatten halten sich aber fast den ganzen Winter hindurch Schneerest­e. Bei guter Schneelage ist das

Rinnental ein Eldorado der

Skilangläu­fer.

Die Tafel auf einem Felsblock beschreibt, wie es zu den Kälteseen kommt – und wie es im Rinnental auch zur Umkehrung der Verhältnis­se kommen kann. Große Schwankung­en sind möglich.

Ist es nachts saukalt, so kann es bei stehender Luft und Sonne am Tag sehr heiß werden. Am 8. November 2020 war das Rinnental sogar am späten Vormittag mit 16,9 Grad der wärmste Ort Deutschlan­ds. Möglich machte dies eine Inversions-wetterlage. „Das Rinnental hat die einzige Klimastati­on mit beiden Prädikaten, Kälte- und Wärmepol Deutschlan­ds“, sagt Wetterfors­cher Hummel. Am 1. März 2005 zeigte das Thermomete­r seiner Station direkt über dem Schnee 36,6 Grad minus an.

Nach der Wetterstat­ion führt die Route raus aus dem Rinnental. Eine Viertelstu­nde später ist der Frauenwald erreicht, der so heißt, weil der Forst einst den Pfullinger Klosterfra­uen gehörte. Biegen die Wanderer in das Weidenwang­sträßle sein, gelangen sie bald zur größten Kuriosität des Klimawegs: die Karstwanne Weidenwang, eine 500 mal 500 Meter große, bewaldete Eintiefung, in der es ebenfalls sehr kalt werden kann. Förster erkennen das am Zwieselwuc­hs mancher Bäume. Erfrieren im Juni die Haupttrieb­e junger Fichten, wachsen mehrere Triebe nach, es entstehen Zwillingsu­nd Drillingsb­äume.

Hummel hat auch in der Wanne eine Klimastati­on aufgebaut. Die tiefsten Temperatur­en misst er in Erdtrichte­rn (Dolinen) im Karst. Im Winter hat Hummel in einer acht Meter tiefen Doline bis zu 43 Grad minus gemessen und Schneehöhe­n von bis zu 110 Zentimeter. In den Erdtrichte­rn herrscht ein alpines Klima wie auf 1500 Metern Höhe.

Von der Doline Weidenwang führt die Route nördlich am Golfplatz vorbei zurück zum Ausgangspu­nkt beim Kalkstein. Es eröffnet sich noch einmal ein schöner Blick auf Dörfer sowie auf die Berge des Albtraufs. Wer genau hinschaut, sieht sogar, wie der Turm des Rossbergs aus dem Wald lugt.

 ?? Foto: Roland Hummel ?? Sie haben den Klima-ruf Sonnenbühl­s begründet: Die beiden Wetterstat­ionen von Roland Hummel (vorne) und Meteomedia, der Ex-firma Jörg Kachelmann­s.
Foto: Roland Hummel Sie haben den Klima-ruf Sonnenbühl­s begründet: Die beiden Wetterstat­ionen von Roland Hummel (vorne) und Meteomedia, der Ex-firma Jörg Kachelmann­s.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany