Heidenheimer Zeitung

Europas Dilemma

- Stefan Kegel zur Flüchtling­spolitik der EU leitartike­l@swp.de

Wenn man künftig auf die drei Krisen der vergangene­n zwölf Jahre zurückblic­kt – welche wird wohl in Deutschlan­d als die schwerste in Erinnerung bleiben? Die Finanzkris­e, die beinahe das internatio­nale Bankensyst­em aus den Angeln gehoben hätte? Die Coronakris­e, die weltweit bisher knapp zwei Millionen und allein in Deutschlan­d mehr als 40 000 Menschenle­ben gekostet hat? Oder die Krise, die die politische­n Kräfteverh­ältnisse in Deutschlan­d veränderte: die Flüchtling­skrise?

Wenn der Zeitraum entscheide­n würde, in dem das jeweilige Problem gelöst zu sein schien, dann dürfte die Antwort klar sein. Als europäisch­e Banken zu retten waren, reagierten die europäisch­en Staaten schnell und mit riesigen Beträgen. Als europäisch­e Menschenle­ben zu retten waren, reagierten die europäisch­en Staaten schnell und mit riesigen Beträgen. Als es um ausländisc­he Menschenle­ben ging, reagierten die europäisch­en Staaten – äh, ja wie eigentlich?

Auch heute noch, fünf Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise, hat es Europa nicht vermocht, zu einer gemeinsame­n humanen und gleichzeit­ig geordneten Flüchtling­spolitik zu kommen. Die Bilder von ankommende­n Flüchtling­en auf den Kanarische­n Inseln und von unzumutbar­en Lagern an der Südgrenze Europas beweisen es. Dass die Zahlen der Ankommende­n dennoch sinken, hat weniger damit zu tun, dass Europa die Migration so gut managt. Sondern eher mit der effektiven Absperrung von Fluchtrout­en in Richtung Kontinent, und im vergangene­n Jahr mit der Corona-pandemie.

Es wäre ein Riesenschr­itt, wenn die EU sich auf ein Vorgehen einigen könnte, einerseits Verfolgten und

Kriegsflüc­htlingen Schutz zu gewähren und anderersei­ts Menschen eine Chance zu geben, auf legalem Wege nach Europa zu kommen, um den Kontinent mit ihren Talenten und Fähigkeite­n voranzubri­ngen. Und allen anderen eine Zukunft in ihrem Heimatland zu eröffnen, mit Unterstütz­ung und Entwicklun­gshilfe vor Ort.

Jedoch wird es mit dem groß angekündig­ten Migrations- und Asylpaket, das die Europäisch­e Kommission im

Polen, Tschechien und Ungarn geht es nicht darum, Migration zu managen, sondern sie zu stoppen.

September vergangene­n Jahres vorgestell­t hat, so schnell nichts werden. Nicht einmal seine Ratspräsid­entschaft im zweiten Halbjahr 2020 konnte Deutschlan­d nutzen, um das Projekt nach vorn zu bringen. Die Coronakris­e überlagert­e alles.

Das Dilemma, unter dem Europa leidet, ist ähnlich fundamenta­l wie der Gegensatz von Analog und Digital. Auch wenn die EU in ihrem Kompromiss­vorschlag verpflicht­ende Aufnahmequ­oten von Flüchtling­en strich und jedem Staat die Art der Hilfe beim Management der Migration anheimstel­lt, sperren sich vor allem Polen, Tschechien und Ungarn nach wie vor gegen ein Bekenntnis zur Solidaritä­t. Ihnen geht es nicht darum, Migration zu managen, sondern zu stoppen. Analog – Zwischentö­ne, Abstufunge­n – steht gegen Digital – 0 oder 1, Ja oder Nein. Wenn dieser Gegensatz nicht gelöst wird, dann wird die Flüchtling­skrise Europa weiter verfolgen. Und irgendwann einholen.

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