Europas Dilemma
Wenn man künftig auf die drei Krisen der vergangenen zwölf Jahre zurückblickt – welche wird wohl in Deutschland als die schwerste in Erinnerung bleiben? Die Finanzkrise, die beinahe das internationale Bankensystem aus den Angeln gehoben hätte? Die Coronakrise, die weltweit bisher knapp zwei Millionen und allein in Deutschland mehr als 40 000 Menschenleben gekostet hat? Oder die Krise, die die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland veränderte: die Flüchtlingskrise?
Wenn der Zeitraum entscheiden würde, in dem das jeweilige Problem gelöst zu sein schien, dann dürfte die Antwort klar sein. Als europäische Banken zu retten waren, reagierten die europäischen Staaten schnell und mit riesigen Beträgen. Als europäische Menschenleben zu retten waren, reagierten die europäischen Staaten schnell und mit riesigen Beträgen. Als es um ausländische Menschenleben ging, reagierten die europäischen Staaten – äh, ja wie eigentlich?
Auch heute noch, fünf Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, hat es Europa nicht vermocht, zu einer gemeinsamen humanen und gleichzeitig geordneten Flüchtlingspolitik zu kommen. Die Bilder von ankommenden Flüchtlingen auf den Kanarischen Inseln und von unzumutbaren Lagern an der Südgrenze Europas beweisen es. Dass die Zahlen der Ankommenden dennoch sinken, hat weniger damit zu tun, dass Europa die Migration so gut managt. Sondern eher mit der effektiven Absperrung von Fluchtrouten in Richtung Kontinent, und im vergangenen Jahr mit der Corona-pandemie.
Es wäre ein Riesenschritt, wenn die EU sich auf ein Vorgehen einigen könnte, einerseits Verfolgten und
Kriegsflüchtlingen Schutz zu gewähren und andererseits Menschen eine Chance zu geben, auf legalem Wege nach Europa zu kommen, um den Kontinent mit ihren Talenten und Fähigkeiten voranzubringen. Und allen anderen eine Zukunft in ihrem Heimatland zu eröffnen, mit Unterstützung und Entwicklungshilfe vor Ort.
Jedoch wird es mit dem groß angekündigten Migrations- und Asylpaket, das die Europäische Kommission im
Polen, Tschechien und Ungarn geht es nicht darum, Migration zu managen, sondern sie zu stoppen.
September vergangenen Jahres vorgestellt hat, so schnell nichts werden. Nicht einmal seine Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 konnte Deutschland nutzen, um das Projekt nach vorn zu bringen. Die Coronakrise überlagerte alles.
Das Dilemma, unter dem Europa leidet, ist ähnlich fundamental wie der Gegensatz von Analog und Digital. Auch wenn die EU in ihrem Kompromissvorschlag verpflichtende Aufnahmequoten von Flüchtlingen strich und jedem Staat die Art der Hilfe beim Management der Migration anheimstellt, sperren sich vor allem Polen, Tschechien und Ungarn nach wie vor gegen ein Bekenntnis zur Solidarität. Ihnen geht es nicht darum, Migration zu managen, sondern zu stoppen. Analog – Zwischentöne, Abstufungen – steht gegen Digital – 0 oder 1, Ja oder Nein. Wenn dieser Gegensatz nicht gelöst wird, dann wird die Flüchtlingskrise Europa weiter verfolgen. Und irgendwann einholen.