„Auf die richtigen Pferde gesetzt“
Die beiden mrna-impfstoffe haben eine sehr gute Wirksamkeit und Sicherheit, sagt der Chef der Ständigen Impfkommission. Ein Gespräch über das Bauchgefühl, die Rolle von Virologen und die Frage, warum seriöse Forscher Nebenwirkungen nie ganz ausschließen k
Bei der Vereinbarung des Interviewtermins schlägt Professor Thomas Mertens vor, man könne sich doch an seiner Wohnadresse in Neu-ulm treffen und gemeinsam einen Spaziergang unternehmen. Am Tag des Interviews ist es dann aber grau und unangenehm kalt – und so lädt der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko) in sein Wohnzimmer ein. Er nimmt mit Hausschuhen vor einem großen Bücherregal Platz und macht es sich in seinem Ledersessel gemütlich. Während Mertens über Impfstoffe, die menschliche DNA und Zulassungsstudien spricht, ist das Gluckern der Spülmaschine zu hören.
Herr Professor Mertens, sind Sie schon gegen Corona geimpft?
Nein! Ich bin ja auch noch nicht dran. Wenn ich aber an der Reihe bin, dann werde ich mich schon impfen lassen.
Warum?
Ich bin nicht mehr ganz jung, und ich habe, wie viele in meinem Alter, Vorerkrankungen. Ich kann mir relativ genau ausrechnen, wie hoch das Risiko einer schweren Erkrankung ist, falls ich mich infiziere. Dem ein rein hypothetisches Risiko der Impfung entgegenzusetzen, wäre doch irrational.
Es gab viel Kritik am Start der Impfkampagne, der Bundesregierung wurde vorgeworfen, zu wenig Impfstoff bestellt zu haben. Wie sehen Sie das?
Ich bin begeistert, dass die Europäische Gemeinschaft es erstmalig geschafft hat, in einer gemeinsamen Aktion diesen Impfstoff zu bestellen. Ich finde es peinlich, dass jetzt schon wieder Diskussionen aufkommen, dass Deutschland noch zusätzlich selbst Impfstoff hätte bestellen müssen. Natürlich ist es richtig, dass mehr Impfstoff besser wäre. Das kann man ja gar nicht bestreiten. Es ist auch gar nicht zu wenig Impfstoff bestellt worden. Er muss nur eben produziert und geliefert werden.
Biontech-gründer Ugur Sahin hat im „Spiegel“gesagt, er sei selbst überrascht gewesen, dass die EU nicht mehr bestellt habe.
Es geht ja immer nur um die Verteilungsfrage. Ich glaube nicht, dass Biontech plötzlich viel mehr produzieren könnte. Es besteht ein weltweiter Bedarf an diesem Impfstoff, und ich finde es wichtig, dass man eine gewisse Gerechtigkeit bei der Verteilung erreicht und nicht nur an sich selbst denkt.
Die Bundesregierung hat bewusst bei verschiedenen Herstellern bestellt, um am Ende nicht mit zu wenig Impfstoff dazustehen. Hat man auf die falschen Pferde gesetzt?
Was Wirksamkeit und Sicherheit angeht, hat man auf die richtigen Pferde gesetzt. Die beiden zugelassenen mrna-impfstoffe sind von ihrem Wirksamkeitsprofil und von dem, was sie an Sicherheitsdaten geliefert haben, sehr gut. Es war auch nicht falsch, auf verschiedene Impfstoffe zu setzen. Keiner konnte am Anfang sicher sagen, welcher am Ende zuerst zugelassen und der wirksamste sein würde. Die grundsätzliche Idee einer gewissen Streuung war vernünftig.
Was schätzen Sie: Wie lange wird es dauern, bis alle Impfwilligen in Deutschland geimpft sein werden?
Solche Schätzungen abzugeben, ist ja eher etwas für Politiker. Es wäre für mich schon ein großer Erfolg, wenn wir im kommenden Herbst in einer besseren Situation sind, als wir das im vergangenen Jahr waren.
Noch ist unklar, ob der Impfstoff „nur“vor der Erkrankung schützt oder auch vor der Übertragung des Virus. Wie ist der Stand?
Es gibt neue Erkenntnisse, die sind aber im Augenblick sehr beschränkt. In den Zulassungsstudien ist das nicht geprüft worden. Das wäre ein sehr großer Aufwand gewesen, weil man mindestens einmal wöchentlich bei allen Probanden einen Rachenabstrich hätte machen müssen. Ich denke, dass der Impfstoff nicht so gut sein kann, dass er eine Infektion völlig verhindern wird. Das ist aber auch gar kein Problem. Die Frage ist, ob er die Virusausscheidung so senkt, dass sie für die Verbreitung keine große Rolle mehr spielt.
Sie sind eher zuversichtlich?
Die wenigen Daten, die es gibt, weisen darauf hin, dass es zu einer deutlich verminderten Viruslast kommt.
Wie besorgt sind Sie über die Mutation aus Großbritannien?
Als Virologe weiß ich, dass Mutationen bei Viren völlig normal sind. Ich weiß aber auch, dass diese Mutationen ein gewisses Risiko beinhalten, dass sich irgendwann eine Variante herausbildet, gegen die etwa Geimpfte nicht mehr immun sind. Darauf deuten die Daten aktuell nicht hin, es ist aber nicht ganz auszuschließen, dass das irgendwann passiert. Falls es passieren sollte, haben wir den Vorteil, dass man einen mrna-impfstoff sehr schnell an die neue Mutante anpassen könnte. Natürlich ist es auch ein Problem, wenn sich die Mutante – ohne schwerer krank zu machen – sehr viel leichter übertragen lässt. Das führt zu mehr Neuinfektionen, mit allen Konsequenzen.
Sind Sie besorgt, dass sich aktuell nur die Hälfte der Deutschen impfen lassen will?
Ich mache mir wenig Gedanken über die aktuellen Umfragen. Die Impfbereitschaft ist keine rationale Entscheidung, sondern basiert meistens auf einem Bauchgefühl. Wenn wir jetzt in eine Phase kommen, in der die Menschen erkennen, dass eine Million Menschen geimpft wurden und nichts Dramatisches passiert ist, kann das auch schnell wieder umschlagen.
Aber es ist doch nicht nur das Bauchgefühl der Menschen …
Nein, es gibt auch andere Gründe. Ich verstehe zum Beispiel, wenn Menschen, die noch nie von einem mrna-impfstoff gehört haben, misstrauisch sind. Die Menschen sind immer ängstlich, wenn es um neue Techniken geht. Angst ist aber ein irrationales Gefühl.
Viele Menschen sind aber auch aus rationalen Gründen zurückhaltend. Zum Beispiel wegen der kurzen Entwicklungszeit der Impfstoffe. Warum ging das so schnell?
Es stimmt, dass der Impfstoff sehr schnell entwickelt worden ist. Die Technik, MRNA für Impfstoffe einzusetzen, wird aber seit 25 Jahren intensiv erforscht. Die Idee kam nicht durch Corona auf, sondern wurde ursprünglich für die Tumorbehandlung entwickelt. Die Technologie war also schon fertig und musste nur für das Coronavirus angepasst werden.
Wurde sicher ausreichend getestet?
Es ist unbestreitbar, dass die Sicherheit etwas größer gewesen wäre, wenn man noch fünf weitere Studien gemacht hätte und auch noch mindestens bis zwei Jahre nach der Impfung gewartet hätte, um bisher unbekannte Langzeitfolgen zu sehen. Es hätte aber dazu geführt, dass wir erst im Jahr 2023 eine Impfung bekommen hätten. Ich glaube nicht, dass die Menschen das Warten weltweit ausgehalten hätten. Aufgrund der Zulassungsstudien kann man mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass bei mehr als einem von tausend Geimpften schwere Nebenwirkungen auftreten werden. Um seltenere Nebenwirkungen auszuschließen, muss man mehr impfen und gut beobachten.
Sie können aber nicht ausschließen, dass irgendwann weitere Nebenwirkungen auftreten werden?
Das kann niemand guten Gewissens. Es ist aber wichtig, die vielen Lebensrisiken in eine richtige Reihung zu bringen. Ich kann mein Leben nicht an Risiken ausrichten, die ich für sehr klein halte.
Können Sie nachvollziehen, wenn junge Menschen wegen ungeklärter Langzeitfolgen erst einmal auf eine Impfung verzichten wollen?
Das kann ich schon nachvollziehen. Wenn ich ein hohes Risiko für eine schwere Erkrankung habe, ist der persönliche Gewinn durch die Impfung natürlich höher, als wenn ich die Erkrankung wahrscheinlich nur als Schnupfen durchmache. Dann kommt für mich aber das zweite Argument zum Tragen: Wir wollen als Gesellschaft die heftige Ausbreitung des Virus bremsen – dann ist auch jeder einzelne gefordert, mit der eigenen Impfung seinen Beitrag zu leisten.
Einige Menschen haben auch Angst, dass die MRNA des Virus in den Zellkern zu ihrer DNA gelangen kann.
Das ist nicht absolut unmöglich, aber so gut wie irrelevant. Und selbst wenn die Virus-mrna in den Kern gerät, muss sie dort erst wieder in DNA übersetzt werden, bevor sie in die menschliche DNA integriert werden könnte. Unmöglich ist das nicht. Das kann aber auch passieren, wenn sie ein Rindersteak essen. Dann nehmen Sie auch eine Menge DNA und RNA zu sich. Wenn man genau nachschaut, findet man im Blut des Essers danach auch noch Teile von Rinder-dna. Und wenn Sie mit Corona infiziert sind, ist ihr Körper ohnehin voll mit MRNA des Virus.
Es besteht weltweit Bedarf an diesem Impfstoff, und ich finde es wichtig, dass man nicht nur an sich selbst denkt.
Der Impfstoff ist sehr schnell entwickelt worden. Die Technik wird aber seit 25 Jahren intensiv erforscht.
Warum ist so grundlegendes Wissen über das Funktionieren unseres Körpers trotzdem so wenig verbreitet?
Ich würde etwas provokativ sagen: Weil sich viele junge Menschen für die falschen Dinge interessieren. Sie schauen auf ihr Äußeres und kommunizieren über ihre vielen technischen Geräte mit allen möglichen Leuten. Unsere Möglichkeit, die Zeit zu nutzen, ist nun mal begrenzt. Wenn sie stattdessen in ein Biologiebuch schauen würden, wäre der Effekt aus meiner Sicht besser. (lacht)
Sie sind seit 2018 im Ruhestand. Wie hat sich Ihr Alltag durch Corona geändert?
In meinem ganzen bisherigen Leben habe ich nie einen großen Unterschied zwischen Beruf und Freizeit gemacht. Das hat sich bei mir nicht ergeben. Ich war es gewöhnt, auch nach dem Abendessen nochmal an den Schreibtisch zu gehen und zu arbeiten. Insofern hat sich eigentlich nicht viel verändert. Meine Frau sagt manchmal, dass ich jetzt sogar mehr arbeite als früher.
Freut es Sie eigentlich, dass Virologen plötzlich öffentlich so stark gehört werden?
Dass die Menschen jetzt wissen, dass es Viren gibt und was die Wissenschaft dagegen tun kann, ist gut. Einfach weil sich damit das Wissen über bestimmte Phänomene der Biologie verbreitet. Problematisch wird es immer dann, wenn Fachleute anfangen, sich über Dinge zu äußern, die nicht zu ihrer Kernkompetenz gehören. Ich habe immer versucht, das zu vermeiden. Ob es mir immer gelungen ist, weiß ich nicht.
Wird es so etwas wie die Corona-pandemie in Zukunft häufiger geben?
Davon bin ich überzeugt. Es hat sich so vieles verändert, was den Viren entgegenkommt. Stellen Sie sich vor, vor ein paar hundert Jahren wäre Corona in einem Dorf ausgebrochen. Die Menschen wären zum Teil gestorben, das Virus hätte aber keine Möglichkeit gehabt, sich weiter auszubreiten, weil die Menschen nur mit dem Ochsenkarren oder zu Fuß unterwegs waren. Ich bin davon überzeugt, dass es solche Ereignisse auch früher gab, sie aber nicht aufgefallen sind. Heute gibt es viel mehr Menschen und auch viel mehr Tierhaltung, und die Menschen fliegen in 24 Stunden einmal um die Welt. Da haben Viren eine gute Chance, sich zu verbreiten.