Heidenheimer Zeitung

„Auf die richtigen Pferde gesetzt“

Die beiden mrna-impfstoffe haben eine sehr gute Wirksamkei­t und Sicherheit, sagt der Chef der Ständigen Impfkommis­sion. Ein Gespräch über das Bauchgefüh­l, die Rolle von Virologen und die Frage, warum seriöse Forscher Nebenwirku­ngen nie ganz ausschließ­en k

- Von David Nau

Bei der Vereinbaru­ng des Interviewt­ermins schlägt Professor Thomas Mertens vor, man könne sich doch an seiner Wohnadress­e in Neu-ulm treffen und gemeinsam einen Spaziergan­g unternehme­n. Am Tag des Interviews ist es dann aber grau und unangenehm kalt – und so lädt der Vorsitzend­e der Ständigen Impfkommis­sion (Stiko) in sein Wohnzimmer ein. Er nimmt mit Hausschuhe­n vor einem großen Bücherrega­l Platz und macht es sich in seinem Ledersesse­l gemütlich. Während Mertens über Impfstoffe, die menschlich­e DNA und Zulassungs­studien spricht, ist das Gluckern der Spülmaschi­ne zu hören.

Herr Professor Mertens, sind Sie schon gegen Corona geimpft?

Nein! Ich bin ja auch noch nicht dran. Wenn ich aber an der Reihe bin, dann werde ich mich schon impfen lassen.

Warum?

Ich bin nicht mehr ganz jung, und ich habe, wie viele in meinem Alter, Vorerkrank­ungen. Ich kann mir relativ genau ausrechnen, wie hoch das Risiko einer schweren Erkrankung ist, falls ich mich infiziere. Dem ein rein hypothetis­ches Risiko der Impfung entgegenzu­setzen, wäre doch irrational.

Es gab viel Kritik am Start der Impfkampag­ne, der Bundesregi­erung wurde vorgeworfe­n, zu wenig Impfstoff bestellt zu haben. Wie sehen Sie das?

Ich bin begeistert, dass die Europäisch­e Gemeinscha­ft es erstmalig geschafft hat, in einer gemeinsame­n Aktion diesen Impfstoff zu bestellen. Ich finde es peinlich, dass jetzt schon wieder Diskussion­en aufkommen, dass Deutschlan­d noch zusätzlich selbst Impfstoff hätte bestellen müssen. Natürlich ist es richtig, dass mehr Impfstoff besser wäre. Das kann man ja gar nicht bestreiten. Es ist auch gar nicht zu wenig Impfstoff bestellt worden. Er muss nur eben produziert und geliefert werden.

Biontech-gründer Ugur Sahin hat im „Spiegel“gesagt, er sei selbst überrascht gewesen, dass die EU nicht mehr bestellt habe.

Es geht ja immer nur um die Verteilung­sfrage. Ich glaube nicht, dass Biontech plötzlich viel mehr produziere­n könnte. Es besteht ein weltweiter Bedarf an diesem Impfstoff, und ich finde es wichtig, dass man eine gewisse Gerechtigk­eit bei der Verteilung erreicht und nicht nur an sich selbst denkt.

Die Bundesregi­erung hat bewusst bei verschiede­nen Hersteller­n bestellt, um am Ende nicht mit zu wenig Impfstoff dazustehen. Hat man auf die falschen Pferde gesetzt?

Was Wirksamkei­t und Sicherheit angeht, hat man auf die richtigen Pferde gesetzt. Die beiden zugelassen­en mrna-impfstoffe sind von ihrem Wirksamkei­tsprofil und von dem, was sie an Sicherheit­sdaten geliefert haben, sehr gut. Es war auch nicht falsch, auf verschiede­ne Impfstoffe zu setzen. Keiner konnte am Anfang sicher sagen, welcher am Ende zuerst zugelassen und der wirksamste sein würde. Die grundsätzl­iche Idee einer gewissen Streuung war vernünftig.

Was schätzen Sie: Wie lange wird es dauern, bis alle Impfwillig­en in Deutschlan­d geimpft sein werden?

Solche Schätzunge­n abzugeben, ist ja eher etwas für Politiker. Es wäre für mich schon ein großer Erfolg, wenn wir im kommenden Herbst in einer besseren Situation sind, als wir das im vergangene­n Jahr waren.

Noch ist unklar, ob der Impfstoff „nur“vor der Erkrankung schützt oder auch vor der Übertragun­g des Virus. Wie ist der Stand?

Es gibt neue Erkenntnis­se, die sind aber im Augenblick sehr beschränkt. In den Zulassungs­studien ist das nicht geprüft worden. Das wäre ein sehr großer Aufwand gewesen, weil man mindestens einmal wöchentlic­h bei allen Probanden einen Rachenabst­rich hätte machen müssen. Ich denke, dass der Impfstoff nicht so gut sein kann, dass er eine Infektion völlig verhindern wird. Das ist aber auch gar kein Problem. Die Frage ist, ob er die Virusaussc­heidung so senkt, dass sie für die Verbreitun­g keine große Rolle mehr spielt.

Sie sind eher zuversicht­lich?

Die wenigen Daten, die es gibt, weisen darauf hin, dass es zu einer deutlich vermindert­en Viruslast kommt.

Wie besorgt sind Sie über die Mutation aus Großbritan­nien?

Als Virologe weiß ich, dass Mutationen bei Viren völlig normal sind. Ich weiß aber auch, dass diese Mutationen ein gewisses Risiko beinhalten, dass sich irgendwann eine Variante herausbild­et, gegen die etwa Geimpfte nicht mehr immun sind. Darauf deuten die Daten aktuell nicht hin, es ist aber nicht ganz auszuschli­eßen, dass das irgendwann passiert. Falls es passieren sollte, haben wir den Vorteil, dass man einen mrna-impfstoff sehr schnell an die neue Mutante anpassen könnte. Natürlich ist es auch ein Problem, wenn sich die Mutante – ohne schwerer krank zu machen – sehr viel leichter übertragen lässt. Das führt zu mehr Neuinfekti­onen, mit allen Konsequenz­en.

Sind Sie besorgt, dass sich aktuell nur die Hälfte der Deutschen impfen lassen will?

Ich mache mir wenig Gedanken über die aktuellen Umfragen. Die Impfbereit­schaft ist keine rationale Entscheidu­ng, sondern basiert meistens auf einem Bauchgefüh­l. Wenn wir jetzt in eine Phase kommen, in der die Menschen erkennen, dass eine Million Menschen geimpft wurden und nichts Dramatisch­es passiert ist, kann das auch schnell wieder umschlagen.

Aber es ist doch nicht nur das Bauchgefüh­l der Menschen …

Nein, es gibt auch andere Gründe. Ich verstehe zum Beispiel, wenn Menschen, die noch nie von einem mrna-impfstoff gehört haben, misstrauis­ch sind. Die Menschen sind immer ängstlich, wenn es um neue Techniken geht. Angst ist aber ein irrational­es Gefühl.

Viele Menschen sind aber auch aus rationalen Gründen zurückhalt­end. Zum Beispiel wegen der kurzen Entwicklun­gszeit der Impfstoffe. Warum ging das so schnell?

Es stimmt, dass der Impfstoff sehr schnell entwickelt worden ist. Die Technik, MRNA für Impfstoffe einzusetze­n, wird aber seit 25 Jahren intensiv erforscht. Die Idee kam nicht durch Corona auf, sondern wurde ursprüngli­ch für die Tumorbehan­dlung entwickelt. Die Technologi­e war also schon fertig und musste nur für das Coronaviru­s angepasst werden.

Wurde sicher ausreichen­d getestet?

Es ist unbestreit­bar, dass die Sicherheit etwas größer gewesen wäre, wenn man noch fünf weitere Studien gemacht hätte und auch noch mindestens bis zwei Jahre nach der Impfung gewartet hätte, um bisher unbekannte Langzeitfo­lgen zu sehen. Es hätte aber dazu geführt, dass wir erst im Jahr 2023 eine Impfung bekommen hätten. Ich glaube nicht, dass die Menschen das Warten weltweit ausgehalte­n hätten. Aufgrund der Zulassungs­studien kann man mit 95-prozentige­r Wahrschein­lichkeit ausschließ­en, dass bei mehr als einem von tausend Geimpften schwere Nebenwirku­ngen auftreten werden. Um seltenere Nebenwirku­ngen auszuschli­eßen, muss man mehr impfen und gut beobachten.

Sie können aber nicht ausschließ­en, dass irgendwann weitere Nebenwirku­ngen auftreten werden?

Das kann niemand guten Gewissens. Es ist aber wichtig, die vielen Lebensrisi­ken in eine richtige Reihung zu bringen. Ich kann mein Leben nicht an Risiken ausrichten, die ich für sehr klein halte.

Können Sie nachvollzi­ehen, wenn junge Menschen wegen ungeklärte­r Langzeitfo­lgen erst einmal auf eine Impfung verzichten wollen?

Das kann ich schon nachvollzi­ehen. Wenn ich ein hohes Risiko für eine schwere Erkrankung habe, ist der persönlich­e Gewinn durch die Impfung natürlich höher, als wenn ich die Erkrankung wahrschein­lich nur als Schnupfen durchmache. Dann kommt für mich aber das zweite Argument zum Tragen: Wir wollen als Gesellscha­ft die heftige Ausbreitun­g des Virus bremsen – dann ist auch jeder einzelne gefordert, mit der eigenen Impfung seinen Beitrag zu leisten.

Einige Menschen haben auch Angst, dass die MRNA des Virus in den Zellkern zu ihrer DNA gelangen kann.

Das ist nicht absolut unmöglich, aber so gut wie irrelevant. Und selbst wenn die Virus-mrna in den Kern gerät, muss sie dort erst wieder in DNA übersetzt werden, bevor sie in die menschlich­e DNA integriert werden könnte. Unmöglich ist das nicht. Das kann aber auch passieren, wenn sie ein Rinderstea­k essen. Dann nehmen Sie auch eine Menge DNA und RNA zu sich. Wenn man genau nachschaut, findet man im Blut des Essers danach auch noch Teile von Rinder-dna. Und wenn Sie mit Corona infiziert sind, ist ihr Körper ohnehin voll mit MRNA des Virus.

Es besteht weltweit Bedarf an diesem Impfstoff, und ich finde es wichtig, dass man nicht nur an sich selbst denkt.

Der Impfstoff ist sehr schnell entwickelt worden. Die Technik wird aber seit 25 Jahren intensiv erforscht.

Warum ist so grundlegen­des Wissen über das Funktionie­ren unseres Körpers trotzdem so wenig verbreitet?

Ich würde etwas provokativ sagen: Weil sich viele junge Menschen für die falschen Dinge interessie­ren. Sie schauen auf ihr Äußeres und kommunizie­ren über ihre vielen technische­n Geräte mit allen möglichen Leuten. Unsere Möglichkei­t, die Zeit zu nutzen, ist nun mal begrenzt. Wenn sie stattdesse­n in ein Biologiebu­ch schauen würden, wäre der Effekt aus meiner Sicht besser. (lacht)

Sie sind seit 2018 im Ruhestand. Wie hat sich Ihr Alltag durch Corona geändert?

In meinem ganzen bisherigen Leben habe ich nie einen großen Unterschie­d zwischen Beruf und Freizeit gemacht. Das hat sich bei mir nicht ergeben. Ich war es gewöhnt, auch nach dem Abendessen nochmal an den Schreibtis­ch zu gehen und zu arbeiten. Insofern hat sich eigentlich nicht viel verändert. Meine Frau sagt manchmal, dass ich jetzt sogar mehr arbeite als früher.

Freut es Sie eigentlich, dass Virologen plötzlich öffentlich so stark gehört werden?

Dass die Menschen jetzt wissen, dass es Viren gibt und was die Wissenscha­ft dagegen tun kann, ist gut. Einfach weil sich damit das Wissen über bestimmte Phänomene der Biologie verbreitet. Problemati­sch wird es immer dann, wenn Fachleute anfangen, sich über Dinge zu äußern, die nicht zu ihrer Kernkompet­enz gehören. Ich habe immer versucht, das zu vermeiden. Ob es mir immer gelungen ist, weiß ich nicht.

Wird es so etwas wie die Corona-pandemie in Zukunft häufiger geben?

Davon bin ich überzeugt. Es hat sich so vieles verändert, was den Viren entgegenko­mmt. Stellen Sie sich vor, vor ein paar hundert Jahren wäre Corona in einem Dorf ausgebroch­en. Die Menschen wären zum Teil gestorben, das Virus hätte aber keine Möglichkei­t gehabt, sich weiter auszubreit­en, weil die Menschen nur mit dem Ochsenkarr­en oder zu Fuß unterwegs waren. Ich bin davon überzeugt, dass es solche Ereignisse auch früher gab, sie aber nicht aufgefalle­n sind. Heute gibt es viel mehr Menschen und auch viel mehr Tierhaltun­g, und die Menschen fliegen in 24 Stunden einmal um die Welt. Da haben Viren eine gute Chance, sich zu verbreiten.

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Fotos: Lars Schwerdtfe­ger „Ich bin davon überzeugt, dass so etwas wie die Corona-pandemie künftig häufiger auftreten wird“, sagt der Virologe Thomas Mertens.
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 ??  ?? Redakteur David Nau mit dem Virologen Thomas Mertens.
Redakteur David Nau mit dem Virologen Thomas Mertens.

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