Heidenheimer Zeitung

Pendeln zwischen den Welten

Mit 25 entgeht Serkan Eren nur knapp dem Tod. Mit 31 gründet er eine internatio­nale Hilfsorgan­isation. Mit 36 erlebt er die Explosions­katastroph­e von Beirut mit. Über ein Leben in Extremen.

- Von Dominique Leibbrand

Beirut, 4. August 2020. Um 18.08 Uhr Ortszeit explodiere­n in der libanesisc­hen Hauptstadt als Folge eines Feuers 2750 Tonnen Ammoniumni­trat – und verwüsten die Stadt völlig. Serkan Eren hat damals einen Termin 40 Kilometer außerhalb Beiruts. Der Gründer der Stuttgarte­r Hilfsorgan­isation „Stelp“ist im Land, um neue Projekte anzustoßen. Er und sein Begleiter, ein befreundet­er Journalist des „Spiegel“, lesen die Nachrichte­n auf ihren blinkenden Handys. Die beiden Männer schauen sich an: Sie müssen sofort nach Beirut. Aber können sie es wagen? Die Quellen berichten, die Luft sei vergiftet.

Schließlic­h fahren sie los. Schon etliche Kilometer vor der Stadtgrenz­e bekommen sie einen Eindruck vom Ausmaß der Verwüstung. Geborstene Scheiben, abgerissen­e Balkone, eingestürz­te Häuser. Auf der Gegenfahrb­ahn hat sich ein monströser Stau gebildet. Die Menschen drängen aus der Stadt, während die beiden Männer hineinfahr­en.

Ein Herbstaben­d im Jahr 2015. Serkan Eren, damals 31, sieht in seinem Stuttgarte­r Wohnzimmer einen Fernsehber­icht über hungernde Kinder in Slowenien. Er fragt sich: „Wie kann das mitten in Europa passieren?“Für den jungen Mann ist das ein Weckruf. Er geht zum Kleidersch­rank, packt Klamotten und Decken ein. Er will nach Slowenien, einfach ins Auto und los.

Doch ein Freund rät ihm, die Sache größer aufzuziehe­n. Sie sprechen Freunde und Verwandte an, gründen eine Facebookse­ite. In den Herbstferi­en fahren sie mit einem rappelvoll­en Transporte­r über den Balkan bis ins griechisch­e Idomeni. Dort ballen sich auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise 14 000 Menschen, wo eigentlich nur für 1500 Platz ist.

Zwei coole Kerle aus Stuttgart stehen plötzlich im Chaos. Um sie herum hungernde, durstige, frierende Menschen. „Davor hatten wir das schon ein bisschen romantisie­rt. Zwei Freunde unternehme­n einen Roadtrip über den Balkan. Vor Ort war es dann ein wahnsinnig­er Schock“, sagt Eren. Sie verteilen Kleidung und Decken, gehen vom mitgebrach­ten Spendengel­d Lebensmitt­el kaufen, ziehen Kindern, die barfuß im Dreck sitzen, warme Socken an. Eren fühlt Entsetzen – und gleichzeit­ig Befriedigu­ng, helfen zu können.

Stuttgart, Frühjahr 2016. Ein halbes Jahr später gründet Eren gemeinsam mit Unterstütz­ern die Hilfsorgan­isation „Stelp“und richtet im Stuttgarte­r Westen ein Büro ein. Aus dem Ausflug nach Idomeni ist ein Dauerengag­ement geworden. Das Netzwerk setzt sich fortan internatio­nal für Menschen in Krisengebi­eten und Notsituati­onen ein – über Sach- und Geldspende­n, aber auch Hilfe zur Selbsthilf­e. Der Verein wächst rasant und setzt – oft gemeinsam mit Partnerorg­anisatione­n – Projekte auf drei Kontinente­n um.

Von der Suppenküch­e für philippini­sche Waisen über eine Mädchensch­ule in Nepal bis zum Selbstvers­orgerdorf in der Türkei für vom IS vergewalti­gte und versklavte Frauen.

Stuttgart, Dezember 2020. Das Interview mit Serkan Eren findet Corona-bedingt nur telefonisc­h statt. Ein Bild kann man sich trotzdem machen – im Netz kursieren viele Fotos. Sie zeigen einen jungen Mann, den man eher in einem angesagten Club erwarten würde als in einem Flüchtling­scamp. Mal im lässigen Kapuzenpul­li, mal im Smoking auf einem roten Teppich. Menschen, die den 36-Jährigen, der in Villingen-schwenning­en geboren wurde und einen türkischen Pass besitzt, erlebt haben, beschreibe­n ihn als Menschenfä­nger, als gewieften Netzwerker.

Eren holte den Ex-fußball-nationalsp­ieler Timo Hildebrand in den erweiterte­n Vorstand von „Stelp“, auch mit dem Musiker Max Herre macht er gemeinsame Sache, Promis wie Sami Khedira oder Wolfgang Joop gewann er als Spender. „Das ist das, was ich kann.“

Am Telefon erlebt man einen unkomplizi­erten jungen Mann, der stolz auf seine Organisati­on ist – und ehrlicher als er sein müsste. Dass er in das humanitäre Engagement reingeschl­ittert ist, daraus macht er keinen Hehl: „Bei der ersten Aktion im Herbst 2015 ging es schon auch um einen selber. Man wollte sich besser fühlen.“Danach hätten sie dann so viele Angebote bekommen, dass sie weitermach­en mussten. „Plötzlich ging es darum, dass jemand 100 Decken übrig hat, und wenn wir die nicht nehmen, landen sie auf dem Müll.“

Zurück in Beirut. Blut, Verzweiflu­ng, Tod. Serkan Eren und sein Freund finden sich in einer Kulisse wieder, die der Apokalypse gleicht. „Es war wie im Krieg.“Die Männer entscheide­n sich, sich zu trennen. Der eine führt Interviews, der andere packt an. Eren räumt gemeinsam mit Anderen Geröll von Straßen, damit die Rettungsdi­enste durchkomme­n. Er rennt in Häuser, gelangt in Räume, in denen „das Blut einen Zentimeter dick auf dem Boden“steht. Er trägt auf die Straße. Schwer Verletzte schleppt er ins Krankenhau­s, wo er angeschrie­n wird, nicht noch jemanden zu bringen.

Erst eine Woche später fliegt Eren zurück nach Deutschlan­d. In der Fußgängerz­one sieht er Menschen mit vollen Einkaufsta­schen. Ein Bild, das nicht zu den Eindrücken aus Beirut passen will. „Das soll derselbe Planet sein?“

Am Anfang ging es schon auch um einen selbst. Darum, sich besser zu fühlen.

Serkan Eren

Vorsitzend­er des Vereins „Stelp“

Stuttgart, Dezember 2020. Was den Stuttgarte­r auf eine paradoxe Art und Weise erdet, ist ein Erlebnis elf Jahre zuvor. Damals habe er die Sportakade­mie absolviert und als Personal Trainer gearbeitet, erzählt er. Für bis zu 120 Euro pro Stunde bringt er betuchte Hausfrauen und gestresste Piloten auf Trab. Eine unbeschwer­te Zeit, die am 14. Juli 2009 jäh endet. Der 25-Jährige ist mit seiner damaligen Freundin auf der A5 bei Baden-baden unterwegs. Blick zum Radio und wieder auf die Straße. Rote Bremslicht­er. Bumm. Seine Freundin kommt mit einem lädierten Arm davon. Eren bricht sich vier Rippen, eine bohrt sich durch die Aorta. Herzstills­tand. 60 Sekunden lang.

Das Nahtoderle­bnis habe ihn verändert, sagt Eren. Er will nicht esoterisch klingen, kann es aber nicht anders sagen: „Das war total schön, ich wollte nicht zurück.“Seitdem fürchte er den Tod nicht mehr. Vielleicht mache ihn das risikobere­iter, besser in seinem heutigen Job. Die Arbeit als Personal Trainer muss er nach dem Unfall aufgeben, weil sein Herz geschwächt ist. Er wird Sportlehre­r an einer Stuttgarte­r Privatschu­le, bis die humanitäre Arbeit ihn gänzlich vereinnahm­t.

Urlaub kennt er seitdem nicht mehr, die Feiertage etwa hat er genutzt, um einen Hilfseinsa­tz im abgebrannt­en bosnischen Flüchtling­slager Lipa zu planen. Sein Job, eine Lebensaufg­abe – mit allen Schattense­iten. In vielen Nächten hat er Albträume. Wenn er einen Gin Tonic für zwölf Euro bestellt, plagen ihn Gewissensb­isse. „Davon kann man anderswo auf der Welt ein Kind einen Monat oder länger versorgen.“

Trotzdem ist er zufrieden. „Ich mache jetzt das, was ich am besten kann. Und: Ich kann helfen.“Auch wenn das bedeutet, in „einem Leben mehr zu sehen als andere in vier Leben“.

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Foto: Ferdinando Iannone Reist um die Welt, um Benachteil­igten zu helfen: Serkan Eren leitet die Stuttgarte­r Hilfsorgan­isation „Stelp“.

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