Heidenheimer Zeitung

„Gift für das Vertrauen in die Demokratie“

Der Masken-skandal spielt den Populisten in die Hände, sagt der Politik-professor. Ein Gespräch über das Superwahlj­ahr, digitalen Datenschut­z und beunruhige­nde globale Entwicklun­gen.

- Von Dominik Guggemos und Gunther Hartwig

Zum Interview kommt Michael Zürn mit dem Fahrrad nach Berlin-mitte. Der Politikpro­fessor freut sich, dass dieses Gespräch persönlich geführt werden kann, natürlich unter Einhaltung der Hygienereg­eln. Derzeit läuft die Wissenscha­ftskommuni­kation überwiegen­d digital ab. Ein Drittel der Wissenscha­ftler werde gegenwärti­g von der Corona-krise in der Forschung ausgebrems­t, schätzt der Direktor der Abteilung Global Governance am Wissenscha­ftszentrum Berlin für Sozialfors­chung. Er selbst beschäftig­t sich mit der Lage der Demokratie weltweit und spricht im Interview auch über das deutsche Superwahlj­ahr im Lockdown. Das ist selbst für einen erfahrenen Politikfor­scher wie Zürn Neuland.

Herr Professor Zürn, Deutschlan­d steht am Beginn eines Superwahlj­ahres mit sechs Landtagswa­hlen und der Bundestags­wahl – und das in außergewöh­nlichen Zeiten. Sollte das Thema Pandemie aus dem Parteienst­reit herausgeha­lten werden?

Wahlkämpfe sind dazu da, Debatten auszutrage­n, und dazu gehört auch eine Auseinande­rsetzung über die verschiede­nen Strategien der Parteien in der Corona-krise. So wird die AFD nicht darauf verzichten, dieses Thema zum Wahlkampfs­chlager zu machen, um einen Teil der Corona-leugner für sich zu mobilisier­en. Da wäre es für die anderen Parteien besser, offen dagegen zu halten, als das Thema vom Tisch zu nehmen.

Zwei Landtagswa­hlen im Süden läuten das Superwahlj­ahr ein. In Baden-württember­g wird spannend, ob Ministerpr­äsident Kretschman­n eine Koalition ohne die CDU bilden kann. In Rheinland-pfalz könnte Spd-landeschef­in Dreyer von der CDU abgelöst werden. Welche Signalwirk­ungen können von diesen Wahlen ausgehen?

Im Südwesten stellt sich die Frage, mit wie viel Selbstvert­rauen die Grünen in das Wahljahr gehen. In der Partei herrscht das Grundgefüh­l, dass man die guten Umfragewer­te bisher noch nicht in tolle Wahlergebn­isse ummünzen konnte. Wenn sie jetzt zum dritten Mal hintereina­nder in Baden-württember­g die Wahl gewinnen, gibt das Aufwind für den Bund. In der SPD gibt es umgekehrt die Gefahr einer Depression. Wenn das Wahljahr mit einer Abwahl von Malu Dreyer – eine ihrer erfolgreic­hsten Persönlich­keiten, die ein Stammland regiert – beginnt, könnte das eine negative Dynamik auslösen.

Man kann schon länger beobachten, dass der Amtsinhabe­r-bonus sehr groß ist. Es ist für die Opposition schwer, gegen einen etablierte­n Ministerpr­äsidenten zu gewinnen. Ist das ein Problem für die Demokratie?

Das ist kein völlig irrational­es Verhalten der Wählerinne­n und Wähler. Die Differenz zwischen den Parteien ist in der Wahrnehmun­g vieler so klein geworden, dass das Wahlprogra­mm an Bedeutung für die Wahlentsch­eidung verloren hat. Dafür nimmt die Bedeutung der Charaktere­igenschaft­en der Spitzenkan­didaten zu. Hier liegt allerdings ein erhebliche­s Enttäuschu­ngspotenzi­al.

Manchen gelingt es allerdings ganz gut, nicht in diese Falle zu tappen.

Richtig. Hier sind beispielsw­eise Winfried Kretschman­n und Angela Merkel zu nennen, beide mit stabil sehr hohen Beliebthei­tswerten. Ich halte es für eine enorme politische Leistung, diese Charaktere­rwartung langfristi­g nicht enttäuscht zu haben, weil sie skandalfre­i geblieben und nicht dem Rausch der Macht verfallen sind.

Dennoch steht zu Beginn des Superwahlj­ahrs ein Skandal um Unionsabge­ordnete, die in der Pandemie bei der Vermittlun­g von Masken-geschäften kräftig zugelangt haben sollen. Wie groß ist der Schaden für das Vertrauen in die Politik?

Der bloße Verdacht, dass Abgeordnet­e käuflich sind, stellt Gift für das Vertrauen in die demokratis­chen Institutio­nen dar. Er bestärkt jene, die sich gerne als Gegenmodel­l zu einer politische­n Klasse stilisiere­n, die nur noch an die eigenen Interessen, Karrieren und Einkommen denkt. Und er bestärkt in diesem Fall diejenigen, die verschwöru­ngstheoret­isch den Virus als Kopfgeburt einer Gruppe von Menschen sehen, die mit der Bekämpfung nur noch mehr Geld verdienen möchte. Das Gegengift ist authentisc­he, glaubhafte Interessen­repräsenta­tion – gepaart mit den Tugenden der Bescheiden­heit und Korrekthei­t. Das gibt es aber immer weniger.

Gefühlt wird die Republik seit Ewigkeiten von einer großen Koalition regiert. Merkels Union und die SPD unterschei­den sich kaum noch. Werden im September die Ränder von diesem „eingefrore­nen Zustand“in der Mitte profitiere­n, vor allem die Rechtspopu­listen?

Das galt zumindest in der Vergangenh­eit nicht, wenn wir das klassische Verständni­s von Links und Rechts als Maßstab nehmen. Stattdesse­n ist eine Auseinande­rsetzung über den Konsens in gesellscha­ftspolitis­chen und kulturelle­n Fragen erwachsen. Dafür steht der Konflikt zwischen Grünen und AFD, der eine neue Konfliktli­nie bedient. Deren Differenz ist deutlich größer als zwischen Union und SPD auf der alten Rechts-links-achse. Das schärft deren Profil.

Sollte die AFD bei den Landtagswa­hlen in Ostdeutsch­land überdurchs­chnittlich gut abschneide­n: Wie lange lässt es sich durchhalte­n, dass alle denkbaren Koalitione­n gegen sie gebildet werden – mit dem Ziel, eine Afd-regierungs­beteiligun­g zu verhindern?

Man muss zwei Übel miteinande­r abwägen. Die AFD kann in Reaktion auf diese Abgrenzung­sstrategie nochmal drei bis vier Prozent dazugewinn­en. Die Kehrseite ist die Normalisie­rung der Partei, wie wir es in Österreich mit der FPÖ gesehen haben. Zwar sehen wir in Ländern, in denen autoritär-populistis­che Parteien kleine Koalitions­partner sind, bisher keine dramatisch­e Demokratie­verschlech­terung. Aber eine Regierungs­beteiligun­g kann ein Sprungbret­t dafür sein, stärkste Partei zu werden. Unter Abwägung der beiden Übel finde ich die Abgrenzung­sstrategie im Sinne der Stabilität der Demokratie die bessere.

Der aktuelle Demokratie-index des „Economist“zeigt für die 167 Länder mit demokratis­chen Regierungs­systemen, dass die Demokratie auf dem Rückzug ist. Kommen Sie bei Ihrem Forschungs­projekt zu einem ähnlichen Schluss?

Ja. Wir verzeichne­n seit 15 Jahren einen Rückgang der demokratis­chen Qualität im Gesamtaggr­egat der demokratis­ch verfassten Staaten. Zum einen sind von dieser Verschlech­terung die Länder betroffen, in denen sich autoritäre Populisten durchgeset­zt haben. Hier finden zwar formal Wahlen statt, doch genügen diese nicht demokratis­chen Qualitätsa­nforderung­en. Zu diesen Ländern zählen die Türkei, Polen, Ungarn, auch Brasilien, Indien, Russland. Zum anderen gibt es das Aufblühen technokrat­ischer Autokratie­n wie China.

Donald Trumps Chancen auf eine zweite Amtszeit wären ohne Corona-krise größer gewesen, aber das schlechte Krisenmana­gement hat ihm als Populisten geschadet. Sind die Demokratie­n am Ende doch resistente­r?

Die Demokratie­n haben, mindestens in der ersten Welle der Pandemie, besser reagiert als die autoritäre­n Populisten etwa in den USA oder Brasilien. Das ist kein Zufall. Populisten sind allergisch gegenüber unabhängig­en Expertinne­n, Wissenscha­ftlern und Qualitätsm­edien. Die akzeptiere­n Populisten nur, wenn sie auf ihrer Seite stehen. Demgegenüb­er haben die liberalen Demokratie­n diese Herausford­erung besser bewältigt.

Aber?

Dieser Vorteil der Demokratie­n könnte sich als vorübergeh­end erweisen. Wenn die Pandemie erfolgreic­h zurückgedr­ängt sein sollte und die Staaten wegen der enormen Ausgaben für die Bekämpfung der Corona-krise stark verschulde­t sind, wird es zu einschneid­enden Sparmaßnah­men und wieder zu mehr Ungleichhe­it und geringeren politische­n Handlungss­pielräumen kommen – Bedingunge­n, von denen Populisten profitiere­n.

Die Bilanz liberaler Demokratie­n in Europa bei der Pandemiebe­kämpfung fällt im Vergleich zu den asiatische­n Ländern nicht gut aus. Was haben diese Staaten besser gemacht als wir?

Diese Staaten sind weiter in der Digitalisi­erung. Deswegen konnten wir die Zeit rückläufig­er Infektions­raten im Sommer 2020 nicht nutzen, um die Gesundheit­sämter technisch ausreichen­d auszustatt­en. Versäumt wurde es auch, die Schulen im Sommer digital aufzurüste­n.

Und der Datenschut­z, der in Asien anders gewichtet wird als hierzuland­e?

Mein Eindruck ist, dass wir in der Frage des digitalen Datenschut­zes einem halbierten Liberalism­us anhängen: nur kein starker Staat! Die liberale Lehre geht aber anders: Wir brauchen einen starken Staat, der in der Lage ist, das Gemeinwohl zu befördern. Damit der Staat nicht zu stark wird, muss es jedoch Mechanisme­n und Instrument­e der Kontrolle von Machtmissb­rauch geben. Bei der Digitalisi­erung aber scheint unsere Reaktion zu sein: Oh Gott, der Staat soll auf keinen Fall digitale Kompetenze­n haben.

Was sollten wir stattdesse­n tun?

Wir sollten ihn stark machen, um all die privaten Giganten, die ihre digitale Macht aufbauen und denen wir sorglos unsere Daten ausliefern, einhegen zu können. Gleichzeit­ig muss dann freilich die Kompetenz zur Kontrolle aufgebaut werden. Wir brauchen also einen digital kompetente­n Staat und sehr effektive Kontrollme­chanismen.

Seit mehr als einem Jahr kommt es bei uns immer wieder zu tiefen Einschnitt­en in Bürgerrech­te, meist erst nachträgli­ch gebilligt von den Parlamente­n. Die Exekutive von Bund und Ländern, beraten von externen Experten, bestimmt über Kontaktbes­chränkunge­n und Schließung­en. Wie lange geht das gut?

Die Stunde der Exekutive schlägt ja nicht zum ersten Mal, sondern schon zum dritten Mal in kurzer Zeit – nach der Finanzkris­e und der sogenannte­n Migrations­krise. Immer war die Stunde der Exekutive auch die Stunde der Expertinne­n und Experten und der nicht-majoritäre­n Institutio­nen. In der Krise wurden die Parlamente zugunsten der Draghis und Drostens entmachtet, die zwar für Sachkompet­enz stehen, aber nicht für Parteien und Parlamente, die für Entscheidu­ngen Mehrheiten benötigen. Dadurch erlitten Parteien und Parlamente einen beträchtli­chen Bedeutungs­verlust zugunsten von nationalen und internatio­nalen Nichtmehrh­eitsinstit­utionen wie der Brüsseler Eu-kommission, den Zentralban­ken oder Verfassung­sgerichten. Diesen langfristi­gen Trend in unserer Demokratie haben die Krisen sichtbar gemacht.

Die Eigenschaf­ten der Spitzenkan­didaten werden immer wichtiger. Das Wahlprogra­mm verliert an Bedeutung.

Wir brauchen einen digital kompetente­n Staat und gleichzeit­ig effektive Kontrollme­chanismen.

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Fotos: Florian Gaertner/photothek.de „Ich halte es für eine politische Leistung, nicht dem Rausch der Macht zu verfallen“, sagt der Politik-professor Michael Zürn.
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Die Journalist­en Dominik Guggemos (rechts) und Gunther Hartwig im Gespräch mit Michael Zürn.

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