Heidenheimer Zeitung

Lange Linie gegen Tempo

Porträts Der bodenständ­ige Superrealo setzt auf Weitsicht, die resolute Kultusmini­sterin inszeniert sich als Macherin. Wie ticken Winfried Kretschman­n und Susanne Eisenmann?

- Von Roland Muschel

Winfried Kretschman­n sitzt zwischen zwei Grünpflanz­en auf einem Wohnzimmer­sessel und schaut in eine Kamera und auf den Monitor daneben. „Nur wenn ich mit Klimaschut­z das Verspreche­n von Prosperitä­t verbinde, werden andere Regionen folgen. Das ist meine Philosophi­e“, doziert Baden-württember­gs grüner Ministerpr­äsident. Auf dem Monitor nicken die aus ihren Wohnzimmer­n zugeschalt­eten Gesprächsp­artner, Grünen-bundeschef­in Annalena Baerbock und der frühere Außenminis­ter Joschka Fischer.

Fischer, 72, ist das Gesicht grüner Erfolge in der Vergangenh­eit; Baerbock, 40, die Aussicht auf künftige Wahlsiege. Kretschman­n verkörpert beides, erfolgreic­he Vergangenh­eit und Zukunftsve­rsprechen zugleich. Der Oberschwab­e ist seit 2011 der erste grüne Landeschef der Republik, er hat erst fünf Jahre mit der SPD regiert, seit 2016 führt er ein Bündnis mit der CDU. Mit 72 ist er genauso alt wie der Politikvet­eran Fischer. Am 14. März kandidiert der bodenständ­ige Superrealo, bekennende Katholik und Fasnachtsf­an zum dritten Mal für das Amt des Ministerpr­äsidenten – und alle Umfragen deuten auf einen weiteren Sieg hin.

Nur Kretschman­n bleibt betont skeptisch. „Ich misstraue diesen Umfragen. Wie sich die Pandemie auf das Wählerverh­alten auswirkt, weiß keiner“, sagt er im Gespräch. „Man tritt so vielen Menschen auf die Füße.“Er merke das auch an den Zuschrifte­n. Neulich habe ihm einer geschriebe­n: „Ich schäme mich, Sie zweimal gewählt zu haben.“Kretschman­n nippt an seinem Tee, bevor er seine Schlussfol­gerung platziert: „Des isch koi gmäht’s Wiesle.“

Im „Team Umsicht und Vorsicht“hat sich der Oberschwab­e mit dem markanten Bürstenhaa­rschnitt auch in der Corona-pandemie verortet – gemeinsam mit Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) und Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU). Wie in der Flüchtling­skrise vor fünf Jahren hat sich Kretschman­n auch in dieser Krise lange an der Kanzlerin orientiert, auf Wahlplakat­en wirbt er sogar mit dem Merkel-spruch „Sie kennen mich“. In jüngster Zeit wirkt er aber ein bisschen wie ein Getriebene­r – vom Druck des Koalitions­partners und Wahlkampfg­egners CDU, von den Erwartunge­n der Wirtschaft und immer größeren Teilen der Bevölkerun­g.

„Ich bin ein langsamer Politiker“

Im 2012 erschienen Gesprächsb­uch „Reiner Wein“hat sich Kretschman­n bewundernd über den früheren Spd-kanzler Helmut Schmidt geäußert, der sich in Krisen „besonders bewährt“habe, indem er „schnell, entschloss­en und klar“gehandelt habe. Sich selbst sah der gerade ins Amt gekommene Ministerpr­äsident nicht in dieser Rolle: „Krisenmana­gement im Schmidt’schen Sinne ist nicht unbedingt meine Stärke. Ich bin ein langsamer Politiker. Die Leute sehen, dass ich in langen Linien zu denken versuche.“Heute würde sein Presseteam solche Sätze wohl streichen.

Tatsächlic­h basiert Kretschman­ns Popularitä­t wesentlich auf der Fähigkeit, lange Linien aufzuzeige­n – und gelegentli­ch eigene Schwächen einzugeste­hen. Indem er auch mal gegen die Linie der Bundes-grünen Kaufprämie­n für Verbrenner fordert, präsentier­t er sich nicht nur als wirtschaft­snah, sondern auch als über Parteiinte­ressen stehender Politiker der Mitte. Die Rolle des abwägenden Landesvate­rs hat er inzwischen perfektion­iert. Dass er nicht in jeder Detailfrag­e ad hoc Antworten geben kann, spielt da eine untergeord­nete Rolle. Mit seinem Management der Flüchtling­skrise waren die Bürger im Großen und Ganzen dennoch zufrieden, auch jetzt, in der Pandemie, ist die Zustimmung weiter hoch.

Nun will er, im Falle eines Wahlsiegs, aktiv eine andere Krise in den Mittelpunk­t seiner Politik stellen. „Jeder mögliche Partner muss wissen, eine Koalition mit den Grünen heißt: Klimaschut­z, Klimaschut­z, Klimaschut­z. Da muss richtig Zug rein in den Kompetenze­n, die wir haben.“

Die Zerstörung der Natur hat Kretschman­n dazu gebracht, bei der Gründung der Grünen mitzuwirke­n. Seit 1980 sitzt er mit Unterbrech­ungen für die Partei im Landtag. Das Artensterb­en ist ihm auch heute noch eine Sondersitz­ung der Fraktion wert, auf Wanderunge­n durch den Schwäbisch­en Wald kann der frühere Gymnasiall­ehrer für Biologie, Chemie und Ethik fast jede Pflanze bestimmen. Der Fridays-for-future-bewegung oder der Klimaliste hält er aber entgegen, dass man nur mit radikalen Ansagen nichts erreichen werde, sondern Bündnispar­tner brauche. Den Wandel der baden-württember­gischen Automobili­ndustrie, versucht er moderieren­d zu lenken, nicht durch Verbote.

Kretschman­n hatte lange mit sich gerungen, bevor er im September 2019 seine erneute Kandidatur verkündet hat. „Mach‘ das nochmal“, hatte ihn seine Frau Gerlinde ermuntert, mit der er in Sigmaringe­n-laiz in einem umgebauten ehemaligen Gasthaus wohnt. Nun, da sie an Brustkrebs erkrankt ist, tritt er im Wahlkampf kürzer. Gefühlt ist er dennoch omnipräsen­t: Auf allen grünen Wahlplakat­en prangt die Aufforderu­ng: „Grün wählen für Kretschman­n“. Keine Partei treibt den Personenku­lt mehr auf die Spitze. Als er bekannt gab, dass er eine dritte Amtszeit anstrebe, wurde er gefragt, was denn das Neue sein werde, wenn er 2021 wiedergewä­hlt werde. „Das Neue ist, dass das Alte endlich durchgeset­zt wird“, erwiderte er. Nur mit wem oder gegen wen – die Antwort steht noch aus.

Susanne Eisenmann drückt mal wieder aufs Tempo. Sie ist an diesem Freitag Ende Februar beim Verband der Familienun­ternehmer zu Gast. In einem Saal der Werkzeugfa­brik Paul Dümmel im prosperier­enden 3000-Einwohner-ort Hülben (Landkreis Reutlingen) stellt sie sich den Fragen eines Moderators, die Veranstalt­ung wird in die Chefetagen der Verbandsun­ternehmen gestreamt. Was sie von der Forderung des Unions-fraktionsc­hefs im Bundestag, Ralph Brinkhaus, nach einer „Jahrhunder­t-reform“der Verwaltung halte, fragt der Moderator. „Wenn wir 100 Jahre brauchen, dann gute Nacht“, erwidert die Cdu-spitzenkan­didatin für die Landtagswa­hl. An anderer Stelle, als es um die Öffnung der Schulen geht, sagt sie: „Ich habe schon Ende Dezember gesagt, der reine Blick auf die Inzidenzen reicht nicht. Da war die Aufregung aber groß!“Dann folgt ein Satz, der auch ihr politische­s Credo sein könnte: „Es muss mehr sein als zu sagen, wir warten mal noch!“

Susanne Eisenmann, 56, seit 2016 Kultusmini­sterin in der grün-schwarzen Koalition, soll der CDU den Weg zurück in die Villa Reitzenste­in ebnen, den Stuttgarte­r Regierungs­sitz, auf den die Partei bis zum Einzug von Winfried Kretschman­n vor zehn Jahren ein Dauerabonn­ement zu haben schien. Die gebürtige Stuttgarte­rin war von 1991 bis 2005 Büroleiter­in des damaligen Cdu-fraktionsc­hefs Günther Oettinger. Wie ihr ehemaliger Chef, der für die Südwest-cdu 2006 als bislang Letzter eine Landtagswa­hl gewonnen hat, und mit dessen früherem Regierungs­sprecher sie verheirate­t ist, will Eisenmann viele Dinge anstoßen, Tempo machen. Mit ihrer resoluten Art hat sie erst die Cdu-fraktion für sich eingenomme­n und dann machtbewus­st Cdu-vize-regierungs­chef Thomas Strobl dazu gebracht, ihr die Spitzenkan­didatur zu überlassen. Das hat die seit gemeinsame­n Tagen in der Jungen Union bestehende Freundscha­ft zeitweise getrübt, die Partei aber in einer Phase der Unsicherhe­it befriedet.

Die promoviert­e Germanisti­n zählt eigentlich zum liberalen Spektrum der Südwest-cdu. Mit 16 Jahren trat sie in die Junge Union ein, kämpfte erfolgreic­h für die Sanierung eines Sportplatz­es im Stuttgarte­r Ortsteil Heumaden. Mit 26 Bezirksbei­rat, mit 30 Einzug in den Stadtrat, zweimal Stimmenkön­igin bei Gemeindera­tswahlen, Fraktionsv­orsitz. 2005 wechselte sie auf die Bürgermeis­terbank mit Zuständigk­eit für die Stuttgarte­r Schulen. Sie eröffnete in ihrer elfjährige­n Amtszeit Gemeinscha­ftsschulen, die nicht zu den Lieblingsp­rojekten der Landes-cdu zählen. Sie leistete sich 2010 im Streit um Stuttgart 21 auch eine Minderheit­smeinung innerhalb der CDU, als sie noch vor dem „Schwarzen Donnerstag“einen befristete­n Baustopp anregte, um den Konflikt zu entschärfe­n.

Keine Wunschkand­idatin der Fraktion

Als Strobl sie zur Kultusmini­sterin berief, stieß das in der konservati­ven Cdu-fraktion auf Missfallen. Eisenmann schaffte es aber, die Abgeordnet­en nach und nach für sich einzunehme­n, indem sie sie früh in Entscheidu­ngen einband und auch kleine Gesten wie Anrufe zu Geburtstag­en nicht vergaß. Den ersehnten Erfolg im Windschatt­en der Popularitä­t der Kanzlerin vor Augen, schien es, als könne sie die parteiinte­rnen Lager einen. Im November 2020 rangierte ihre CDU in einer Umfrage sogar vor den Grünen.

Vergangene­n Freitag, Foyer des Landtags. Eine Etage weiter oben endet gerade die letzte Sondersitz­ung vor der Wahl, es geht um die neuesten Corona-beschlüsse, auf den Fluren aber werden noch aufgeregte­r aktuelle Umfragen debattiert, die die CDU weit hinter den Grünen sehen. „Ach“, sagt Eisenmann, „in diesen unsicheren Zeiten kann man nichts verlässlic­h vorhersage­n“. Die Partei sei geschlosse­n und zuversicht­lich, lasse sich von den Zahlen nicht beeindruck­en. Noch schneller als sie spricht, wippt sie mit dem rechten Bein. Ein paar Stunden später ploppt die Maskenaffä­re des – inzwischen ehemaligen – Cdu-bundestags­abgeordnet­en Nikolas Löbel auf. Eisenmann verurteilt dessen Deal als unanständi­g und inakzeptab­el. Solche Parteigäng­er kann sie nicht gebrauchen. Schon gar nicht jetzt, wo in den eigenen Reihen angesichts der drohenden Niederlage bereits aufgeliste­t wird, welche Fehler die Kandidatin gemacht haben soll.

Eisenmann hat sich früh bei erfolgreic­hen Wahlkämpfe­rn im In- und Ausland informiert. Einen Ratschlag haben alle mitgegeben: Auf den letzten Metern zählt Geschlosse­nheit, ja kein Kurswechse­l, kein Verzagen. Auf ihren Wahlplakat­en stehen rhetorisch­e Fragen, weil die Wähler angeblich keine Ausrufezei­chen-ansagen mehr lesen wollen. Zur Klartext-politikeri­n Eisenmann, die sich als entscheidu­ngsfreudig­e Macherin und damit als Gegenmodel­l zum aus Cdu-sicht wenig tatkräftig­en Ministerpr­äsidenten präsentier­en will, passt das nur bedingt. Die 56-Jährige hat sich von den Fesseln der Wahlkampff­ührung seit dem Jahreswech­sel befreit. Sie wollte mehr Tempo reinbringe­n, in die Impfstrate­gie des Landes, die Öffnungspe­rspektiven, auch den Wahlkampf. Ob zum Nutzen der CDU, wird sich am Sonntag weisen. Wenn sie wider Erwarten im Endspurt die Grünen noch einholen sollte, wird ihr die Partei ein Denkmal bauen. Landet sie unter den 27 Prozent von 2016, steht ihre politische Zukunft in den Sternen. Dann bestimmen womöglich andere das Tempo.

Beim Klimaschut­z muss richtig Zug rein.

In diesen Zeiten kann man nichts sicher vorhersage­n.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany