Wenn der Zeuge nicht erscheint
Nicht jeder, der eine Aussage machen soll, kommt dieser Aufforderung auch nach. Amtsgerichtsdirektor Rainer Feil beschreibt Gründe und Sanktionsmöglichkeiten.
Zeuge XY bitte in Saal 1! Üblicherweise hallt diese Aufforderung mehrmals täglich durch das Foyer des Amtsgerichts. Nicht immer betritt der Angesprochene anschließend tatsächlich den Sitzungsraum. Weil er nämlich gar nicht anwesend ist, und das geschieht heute offenbar häufiger als früher. „Nach meinem Eindruck hat die Bereitschaft von Zeugen, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen, über die letzten Jahre und Jahrzehnte eher abgenommen“, sagt jedenfalls Amtsgerichtsdirektor Rainer Feil.
Woran mag das liegen? Und welche Konsequenzen drohen? Ein Blick ins Gesetz erspart sprichwörtlich viel Geschwätz: Paragraf 48 der Strafprozessordnung gibt unmissverständlich zu verstehen, Zeugen seien verpflichtet, „zu dem zu ihrer Vernehmung bestimmten Termin vor dem Richter zu erscheinen“.
Im Alltag stoßen Feil zufolge Ladungen aber oftmals auf Unverständnis, weil die Zeugen der Ansicht sind, sie hätten bei der Polizei doch schon alles gesagt. Auch hier hilft der Gesetzestext weiter: Paragraf 250 der Strafprozessordnung legt fest, dass eine Vernehmung nicht durch die Verlesung eines Protokolls oder einer Erklärung ersetzt werden darf. Der Zeuge hat also persönlich vor Gericht zu erscheinen, damit sich dieses ein unmittelbares Bild von ihm und seiner Aussage verschaffen kann.
Wir gängeln niemanden, wir wenden nur die Strafprozessordnung an. Rainer Feil
„Wir gängeln niemanden mit einer Zeugenladung, weil wir nichts Besseres zu tun hätten“, stellt Feil klar, „wir wenden nur die Strafprozessordnung an, und das ist unsere Pflicht.“Hinzu kommt, dass Angeklagte mitunter erst vor Gericht Angaben machen, die dann mit dem Wissen des Zeugen verglichen werden müssen.
Mancher steht innerlich stramm, wenn er Post von der Justiz erhält, und käme nie auf die Idee, eine Verhandlung zu schwänzen. Feil verhehlt nicht, dass das ohne böse Absicht trotzdem passieren kann – etwa wenn jemand kurz zuvor umgezogen ist und deshalb die Ladung nicht rechtzeitig erhalten hat.
Oder weil der Termin vergessen wurde, was den Betreffenden aber ebenso wenig entlastet wie das bloße Fernbleiben aus gesundheitlichen Gründen. In solchen Fällen muss ein ärztliches Attest vorgelegt werden. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung reicht nicht aus: „Wer einen Bänderriss erlitten hat, mag an seiner Berufsausübung gehindert sein“, liefert Feil die Begründung, „an einer Zeugenaussage ist er es in der Regel nicht.“
Anders sieht es aus, falls die Vorladung bewusst ignoriert wird, weil die Wahrnehmung des Termins als lästig und aufwendig angesehen wird. „Dafür habe ich keinerlei Verständnis“, stellt Feil klar. Ein Rechtsstaat könne nur funktionieren, wenn seine Bürger vor Gericht zur Wahrheitsfindung beitrügen. Jeder Einzelne könne in eine Lage geraten, in der er auf die Aussagebereitschaft anderer angewiesen sei. Daher handele es sich um „eine Frage der gesellschaftlichen Solidarität“. Nicht außer Acht zu lassen ist dem Chef des Amtsgerichts zufolge außerdem, dass in manchen Kreisen eine Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz verpönt sei.
Die nachlassende Bereitschaft, als Zeuge auszusagen – Feil taxiert den Anteil unentschuldigten Fehlens auf einen einstelligen Prozentsatz, betont aber, dass keine entsprechenden Statistiken geführt werden –, zeigt nach Feils Ansicht Parallelen zur nachlassenden Akzeptanz staatlicher Institutionen, zur zunehmenden Gewaltbereitschaft gegenüber Polizeibeamten und zur wachsenden Zahl von Schulverweigerern sowie von Personen, „die den Staat vollständig negieren. Dieses Problem hat tiefe Wurzeln und kann ganz sicher nicht von der Justiz alleine bewältigt werden“.
Die ist aber regelmäßig mit der Frage konfrontiert, wie das Nichterscheinen zu sanktionieren ist. Keinen Spielraum lässt das Gesetz bei den dadurch entstehenden Kosten. Wer verantwortlich ist, dass ein Fortsetzungstermin erforderlich wird, bezahlt Paragraf 51 der Strafprozessordnung zufolge die für Verteidigergebühren, Fahrtkosten und dergleichen anfallende Summe.
Hinzu kommt ein Ordnungsgeld zwischen fünf und 1000 Euro. Lässt es sich nicht eintreiben, sind auch bis zu sechs Wochen Ordnungshaft denkbar. Zu guter Letzt bleibt die zwangsweise Vorführung durch die Polizei, sofern unakzeptable Gründe für die Abwesenheit vorliegen und das Erscheinen des Zeugen erfolgversprechend scheint.
„Der Gesetzgeber ist hier aus gutem Grund relativ streng“, sagt Feil. Zugleich erwähnt er die Möglichkeit, Fingerspitzengefühl zu beweisen, „wenn einem kleinen Verschulden das größte Verständnis des Gerichts gegenübersteht“. Im Blick hat er dabei Opfer schwerer Straftaten, „denen es am Tag der Verhandlung einfach nicht gelingt, vor Gericht zu erscheinen, die aber aufgrund ihrer Verfassung sicher ein ärztliches Attest bekommen hätten“.
Angst vor Repressalien
Mitunter spielt auch die Furcht vor Repressalien eine Rolle. So bei jenem jungen Mann, der mit einem Messer bedroht worden war und der juristischen Aufarbeitung des Geschehens vor einigen Wochen im Amtsgericht am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Erst aufgrund einer nachdrücklichen telefonischen Aufforderung erschien er mit Verspätung im Gerichtssaal.
Feil räumt ein, derartige Situationen könnten als äußerst unangenehm empfunden werden. Gleichwohl sei ein solches Verhalten nicht zu akzeptieren, „weil sonst rechtsfreie Räume entstehen, die uns langfristig größte Probleme bereiten würden“.
In deutlich komplexeren Fällen stehen Zeugenschutzkonzepte zur Verfügung, die bis zur Vermittlung einer neuen Identität reichen. Traumatisierten Opfern schwerer Straftaten können geschulte psychosoziale Prozessbegleiter zur Seite gestellt werden.
Nahe Verwandte wie die Ehefrau oder der Bruder haben ein Zeugnisverweigerungsrecht. Außerdem müssen Zeugen nicht auf Fragen antworten, wenn sie damit Gefahr liefen, ihrerseits wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Generell haben Zeugen vor Gericht aber die Wahrheit zu sagen und dürfen nichts Wesentliches weglassen. Sonst machen sie sich strafbar.
Erinnerungen verblassen
Dass bisweilen Monate nach einer Tat detaillierte Erinnerungen fehlen, ist nachvollziehbar und vom Gericht zu akzeptieren. Was aber tun, falls ein Zeuge mit demonstrativ zur Schau getragener Unlust Antworten bewusst schuldig bleibt oder schlichtweg die Aussage verweigert?
Lassen beispielsweise frühere Äußerungen darauf schließen, dass er sehr wohl über Kenntnisse verfügt, sind Zwangsmittel wie beim Nichterscheinen denkbar. Ordnungsgeld und -haft können dabei auch wiederholt verhängt werden. Im Falle einer Lüge kommt überdies ein Strafverfahren wegen Falschaussage in Betracht.