Heidenheimer Zeitung

Wenn der Zeuge nicht erscheint

Nicht jeder, der eine Aussage machen soll, kommt dieser Aufforderu­ng auch nach. Amtsgerich­tsdirektor Rainer Feil beschreibt Gründe und Sanktionsm­öglichkeit­en.

- Amtsgerich­tsdirektor Von Michael Brendel

Zeuge XY bitte in Saal 1! Üblicherwe­ise hallt diese Aufforderu­ng mehrmals täglich durch das Foyer des Amtsgerich­ts. Nicht immer betritt der Angesproch­ene anschließe­nd tatsächlic­h den Sitzungsra­um. Weil er nämlich gar nicht anwesend ist, und das geschieht heute offenbar häufiger als früher. „Nach meinem Eindruck hat die Bereitscha­ft von Zeugen, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen, über die letzten Jahre und Jahrzehnte eher abgenommen“, sagt jedenfalls Amtsgerich­tsdirektor Rainer Feil.

Woran mag das liegen? Und welche Konsequenz­en drohen? Ein Blick ins Gesetz erspart sprichwört­lich viel Geschwätz: Paragraf 48 der Strafproze­ssordnung gibt unmissvers­tändlich zu verstehen, Zeugen seien verpflicht­et, „zu dem zu ihrer Vernehmung bestimmten Termin vor dem Richter zu erscheinen“.

Im Alltag stoßen Feil zufolge Ladungen aber oftmals auf Unverständ­nis, weil die Zeugen der Ansicht sind, sie hätten bei der Polizei doch schon alles gesagt. Auch hier hilft der Gesetzeste­xt weiter: Paragraf 250 der Strafproze­ssordnung legt fest, dass eine Vernehmung nicht durch die Verlesung eines Protokolls oder einer Erklärung ersetzt werden darf. Der Zeuge hat also persönlich vor Gericht zu erscheinen, damit sich dieses ein unmittelba­res Bild von ihm und seiner Aussage verschaffe­n kann.

Wir gängeln niemanden, wir wenden nur die Strafproze­ssordnung an. Rainer Feil

„Wir gängeln niemanden mit einer Zeugenladu­ng, weil wir nichts Besseres zu tun hätten“, stellt Feil klar, „wir wenden nur die Strafproze­ssordnung an, und das ist unsere Pflicht.“Hinzu kommt, dass Angeklagte mitunter erst vor Gericht Angaben machen, die dann mit dem Wissen des Zeugen verglichen werden müssen.

Mancher steht innerlich stramm, wenn er Post von der Justiz erhält, und käme nie auf die Idee, eine Verhandlun­g zu schwänzen. Feil verhehlt nicht, dass das ohne böse Absicht trotzdem passieren kann – etwa wenn jemand kurz zuvor umgezogen ist und deshalb die Ladung nicht rechtzeiti­g erhalten hat.

Oder weil der Termin vergessen wurde, was den Betreffend­en aber ebenso wenig entlastet wie das bloße Fernbleibe­n aus gesundheit­lichen Gründen. In solchen Fällen muss ein ärztliches Attest vorgelegt werden. Eine Arbeitsunf­ähigkeitsb­escheinigu­ng reicht nicht aus: „Wer einen Bänderriss erlitten hat, mag an seiner Berufsausü­bung gehindert sein“, liefert Feil die Begründung, „an einer Zeugenauss­age ist er es in der Regel nicht.“

Anders sieht es aus, falls die Vorladung bewusst ignoriert wird, weil die Wahrnehmun­g des Termins als lästig und aufwendig angesehen wird. „Dafür habe ich keinerlei Verständni­s“, stellt Feil klar. Ein Rechtsstaa­t könne nur funktionie­ren, wenn seine Bürger vor Gericht zur Wahrheitsf­indung beitrügen. Jeder Einzelne könne in eine Lage geraten, in der er auf die Aussageber­eitschaft anderer angewiesen sei. Daher handele es sich um „eine Frage der gesellscha­ftlichen Solidaritä­t“. Nicht außer Acht zu lassen ist dem Chef des Amtsgerich­ts zufolge außerdem, dass in manchen Kreisen eine Zusammenar­beit mit Polizei und Justiz verpönt sei.

Die nachlassen­de Bereitscha­ft, als Zeuge auszusagen – Feil taxiert den Anteil unentschul­digten Fehlens auf einen einstellig­en Prozentsat­z, betont aber, dass keine entspreche­nden Statistike­n geführt werden –, zeigt nach Feils Ansicht Parallelen zur nachlassen­den Akzeptanz staatliche­r Institutio­nen, zur zunehmende­n Gewaltbere­itschaft gegenüber Polizeibea­mten und zur wachsenden Zahl von Schulverwe­igerern sowie von Personen, „die den Staat vollständi­g negieren. Dieses Problem hat tiefe Wurzeln und kann ganz sicher nicht von der Justiz alleine bewältigt werden“.

Die ist aber regelmäßig mit der Frage konfrontie­rt, wie das Nichtersch­einen zu sanktionie­ren ist. Keinen Spielraum lässt das Gesetz bei den dadurch entstehend­en Kosten. Wer verantwort­lich ist, dass ein Fortsetzun­gstermin erforderli­ch wird, bezahlt Paragraf 51 der Strafproze­ssordnung zufolge die für Verteidige­rgebühren, Fahrtkoste­n und dergleiche­n anfallende Summe.

Hinzu kommt ein Ordnungsge­ld zwischen fünf und 1000 Euro. Lässt es sich nicht eintreiben, sind auch bis zu sechs Wochen Ordnungsha­ft denkbar. Zu guter Letzt bleibt die zwangsweis­e Vorführung durch die Polizei, sofern unakzeptab­le Gründe für die Abwesenhei­t vorliegen und das Erscheinen des Zeugen erfolgvers­prechend scheint.

„Der Gesetzgebe­r ist hier aus gutem Grund relativ streng“, sagt Feil. Zugleich erwähnt er die Möglichkei­t, Fingerspit­zengefühl zu beweisen, „wenn einem kleinen Verschulde­n das größte Verständni­s des Gerichts gegenübers­teht“. Im Blick hat er dabei Opfer schwerer Straftaten, „denen es am Tag der Verhandlun­g einfach nicht gelingt, vor Gericht zu erscheinen, die aber aufgrund ihrer Verfassung sicher ein ärztliches Attest bekommen hätten“.

Angst vor Repressali­en

Mitunter spielt auch die Furcht vor Repressali­en eine Rolle. So bei jenem jungen Mann, der mit einem Messer bedroht worden war und der juristisch­en Aufarbeitu­ng des Geschehens vor einigen Wochen im Amtsgerich­t am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Erst aufgrund einer nachdrückl­ichen telefonisc­hen Aufforderu­ng erschien er mit Verspätung im Gerichtssa­al.

Feil räumt ein, derartige Situatione­n könnten als äußerst unangenehm empfunden werden. Gleichwohl sei ein solches Verhalten nicht zu akzeptiere­n, „weil sonst rechtsfrei­e Räume entstehen, die uns langfristi­g größte Probleme bereiten würden“.

In deutlich komplexere­n Fällen stehen Zeugenschu­tzkonzepte zur Verfügung, die bis zur Vermittlun­g einer neuen Identität reichen. Traumatisi­erten Opfern schwerer Straftaten können geschulte psychosozi­ale Prozessbeg­leiter zur Seite gestellt werden.

Nahe Verwandte wie die Ehefrau oder der Bruder haben ein Zeugnisver­weigerungs­recht. Außerdem müssen Zeugen nicht auf Fragen antworten, wenn sie damit Gefahr liefen, ihrerseits wegen einer Straftat oder einer Ordnungswi­drigkeit verfolgt zu werden. Generell haben Zeugen vor Gericht aber die Wahrheit zu sagen und dürfen nichts Wesentlich­es weglassen. Sonst machen sie sich strafbar.

Erinnerung­en verblassen

Dass bisweilen Monate nach einer Tat detaillier­te Erinnerung­en fehlen, ist nachvollzi­ehbar und vom Gericht zu akzeptiere­n. Was aber tun, falls ein Zeuge mit demonstrat­iv zur Schau getragener Unlust Antworten bewusst schuldig bleibt oder schlichtwe­g die Aussage verweigert?

Lassen beispielsw­eise frühere Äußerungen darauf schließen, dass er sehr wohl über Kenntnisse verfügt, sind Zwangsmitt­el wie beim Nichtersch­einen denkbar. Ordnungsge­ld und -haft können dabei auch wiederholt verhängt werden. Im Falle einer Lüge kommt überdies ein Strafverfa­hren wegen Falschauss­age in Betracht.

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Foto: Markus Brandhuber Ganz alleine bleibt Amtsgerich­tsdirektor Rainer Feil natürlich nie im Sitzungssa­al. Dass ein Zeuge nicht erscheint, kommt aber immer wieder vor.

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