Licht nach einem langen Albtraum
Johanna Beck wächst in einem ultrakonservativen Umfeld auf. Der Pater redet von Keuschheit, Schuld und Höllenqualen. Dann wird er zudringlich. Es war Missbrauch, sagt die 38-Jährige, die heute für Reformen der katholischen Kirche kämpft.
Es sind heitere Tage im Jahr 2018. Johanna Beck ist in Italien, genießt den Urlaub mit ihrem Mann und den drei kleinen Kindern. Da dringen Nachrichten aus Deutschland an ihr Ohr. Wissenschaftler der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen stellen in Fulda die erste umfassende Studie zu Missbrauch in der Kirche vor. Das Thema beherrscht die Schlagzeilen – und wirft Johanna Beck aus der Bahn. Denn die Literaturwissenschaftlerin erkennt: Was ihr in den 90er Jahren im Kindes- und Jugendalter angetan wurde, war ein Verbrechen – war körperlicher und geistlicher Missbrauch, der aus ihrem Glauben eine Religion der Angst und Gefügigkeit machen sollte.
Zu unserem Treffen kommt die 38-Jährige ins Haus der Katholischen Kirche in Stuttgart. Vom Schlosspark her fällt helles Frühlingslicht durch die großen Fenster des Besprechungsraumes. Acrylbilder in Rot, Gelb und Orange zeigen schemenhaft eine dreiköpfige Familie. Sie strahlen Geborgenheit und Wärme, Schutz und Zusammenhalt aus. Nichts davon verbindet sich mit der Geschichte, die Johanna Beck erzählt. Dennoch leuchten ihre blauen Augen, keine Bitterkeit, kein Zorn hat sich in die Fältchen um Augen und Mund eingegraben. Sie lacht gerne, auch wenn sie von Herausforderungen des Homeoffice mit ihren fünf, sieben und neun Jahre alten Kindern erzählt. „Ob ich jemals wieder einen Text schreiben kann, ohne dass Benjamin Blümchen im Hintergrund läuft?“
Die Akademikerin schreibt und organisiert von Zuhause aus. Im Augenblick vor allem ihre Arbeit im Betroffenenbeirat, einem Zusammenschluss von Missbrauchs-erfahrenen, die selbstbewusst den Reformprozess der katholischen Kirche, den Synodalen Weg, begleiten. Aber auch Aktionen der Frauenbewegung „Maria 2.0“laufen über Johanna Becks Schreibtisch, ebenso Aufgaben, die sie als Kirchengemeinderätin in der Stuttgarter Gemeinde St. Eberhard ausübt.
Wie geht dieses Engagement zusammen mit ihren Erfahrungen in ihrer Kinderund Jugendzeit? Nicht nur Leidensgenossen
fragen sich das. „Geht’s noch?“, werde ihr entgegen geschleudert. Auch sie selbst ringt immer wieder mit sich, ob sie in der Kirche bleiben oder sie verlassen soll.
Johanna Beck wächst als jüngste von vier Töchtern in ein religiös ultrakonservatives Umfeld hinein. Ihre Mutter ist bei der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE) aktiv, einer 1976 gegründeten sogenannten Neuen Geistlichen Bewegung. Katholisch, rechts und fundamentalistisch ist die Ausrichtung. Es gibt Verbindungen zum ultrakonservativen Engelwerk. Papst Johannes Paul II. würdigt die rückwärtsgewandten Neugründungen als Bollwerk gegen Reformbestrebungen der Befreiungstheologie und westlichen Zeitgeist. Streng hierarchische Strukturen und religiöser Drill prägen die Bewegung, ebenso ein krass überhöhtes Priesterbild. Johanna Beck: „Für uns waren das Halbgötter.“Einen Geistlichen in Frage zu stellen, war gar nicht denkbar.
Ständige Fragen nach der Sexualität
Das Mädchen aus dem Raum Würzburg wird groß mit Gruppenstunden und ab elf Jahren mit Freizeitlagern. Zunächst scheint alles harmlos. Sie singt mit Gleichaltrigen, wandert, spielt und bekommt doch mehr und mehr ein ultrakonservatives Rollen- und Glaubensverständnis eingeimpft.
Strenge Abläufe prägen die Freizeiten: frühes Aufstehen, Gottesdienst, Frühstück, Rosenkranz, Schweigeexerzitien. Und immer wieder Vorträge. Ein strenger und strafender Gott wird den Kindern vermittelt. „Mein dominierendes Gefühl in der Kindheit war Angst. Das ganze Setting war eine Grenzverletzung.“
Johanna Beck erinnert sich mit Grauen an den Pater, der für die Unterweisung der Mädchen verantwortlich war. Von Schuld, Sünde und Höllenqualen eifert der Mann. Und wie besessen: von Keuschheit. Im Beichtstuhl fragt der Geistliche die Elfjährige immer wieder nach Körper und Sexualität. Beharrt auf Details, zu denen das Mädchen oft gar nichts sagen kann. „Und dann kam dieses auffällige Schnaufen von der anderen
Seite.“Johanna Beck schüttelt sich. Dieses Geräusch werde sie nie mehr vergessen. Sie ahnt früh: Hier läuft etwas schief. Doch Worte dafür hat sie nicht. Mit anderen zu sprechen, wagt sie nicht. Nicht einmal ihren älteren Schwestern vertraut sie sich an. Dabei lasten auf allen vier jungen Frauen ähnliche Erfahrungen. Sie haben das erst vor zwei Jahren realisiert. „Ich dachte immer: Ich bin falsch. Der Grund für mein Unbehagen liegt bei mir“, sagt Johanna Beck.
Einmal jedoch durchbricht eine ihrer älteren Schwestern das Schweigen und zieht die Leiterin der Mädchenfreizeit ins Vertrauen: Der Pater wolle was von kleinen Mädchen. Statt Solidarität fängt sich die Jugendliche eine schallende Ohrfeige ein. Auch die Mutter weigert sich, unangemessenes Verhalten des Geistlichen einzugestehen. Stattdessen wird den Kindern in der KPE Verantwortung aufgebürdet. Sie dürfen selbst im Hochsommer nicht im Badeanzug durch das Feldlager springen – „weil der Pater sonst von uns in Versuchung geführt würde“.
Mit der Zeit wächst dessen Zudringlichkeit. Ältere Mädchen feixen offen darüber, dass der Pater bei Dunkelheit um die Waschgelegenheiten der Mädchen schleiche. Auch im Gruppenraum sucht der Geistliche körperliche Nähe. Bei geschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen rückt er auch Johanna auf den Leib. Noch heute weiß sie genau, wo an ihrem Oberkörper seine Hände lagen. Und sie beschreibt den schweren Atem, der dann an ihre Wangen und ihren Nacken drang.
Die Erinnerungen verdrängt sie lange. „Ich dachte doch, dass nur eine Vergewaltigung Missbrauch ist.“
Als Johanna Beck 14 Jahre alt ist, muss sie ein Referat über Keuschheit verfassen. Den Text hat sie aufgehoben. Sie weiß heute: „Da stand schon alles drin, was es für eine gelingende Täterstrategie braucht: Misstrauen gegen sich selbst. Offenheit gegenüber dem Beichtvater.“Diese Sätze belasten sie für Jahrzehnte.
Mit 16 windet sie sich aus der sektiererischen Pfadfinderschaft Europas. Weil ihre schulischen Leistungen einbrechen, darf sie nach Würzburg auf eine katholische Schule. Von dort ist es zu weit zur Gruppenstunde. Für Johanna Beck ist das eine Befreiung. In der neuen Schule hört sie zum ersten Mal, dass die christliche Botschaft keine Angst-religion ist, sondern sich an Freiheit und Barmherzigkeit ausrichtet. „Ich hatte tolle Lehrer. Doch Religion war für mich total konterminiert.“
Die Schreckensbilder ihrer Kindheit wirken nach. Sie wendet sich ab, studiert und zieht mit ihrem Mann irgendwann nach Stuttgart. Erst zur Taufe ihrer eigenen Kinder betritt sie wieder ein Gotteshaus. In der Innenstadt-gemeinde fühlt sie sich willkommen. „Es hat sich angefühlt, wie nach Hause zu kommen.“
Nach langer Zeit erstattet sie Anzeige
Doch noch ist ihre Vergangenheit mächtig. Die Schlagzeilen aus dem Herbst bringen ihre Gespenster zurück. Albträume holen sie ein und Panikattacken. Sie kann nicht mehr essen, findet keinen Schlaf, ist nervlich am Ende. Als sie 2019 nach einem Zusammenbruch in der Notaufnahme landet, entschließt sie sich zu einer Therapie. „Mein Leben wäre fast zerbrochen.“In ihrer Stuttgarter Kirchengemeinde offenbart sie sich schließlich einem Priester und hört Worte, die für sie wertvoller sind als Gold. „Ihnen wurde Unrecht getan. Das war ein Verbrechen.“
Der Pfarrer ermutigt sie, Anzeige zu erstatten. Es dauert, bis sie es im vergangenen Sommer wagt. Groß ist die Angst, Mitglieder des Engelwerkes könnten ihre Familie bedrohen. Doch die Furcht wandelt sich mit der Zeit in Wut, dann in Kampfgeist. „Ich lasse mir meinen Platz in der Kirche nicht noch einmal nehmen.“Deshalb engagiert sie sich. Und deshalb hat sie auch ein Theologiestudium begonnen. Es hilft ihr, dem Bild eines strafenden Gottes eine positive Kraft entgegenzusetzen.
Johanna Beck sagt: „Ich werde nichts unversucht lassen, damit sich in der Kirche etwas ändert.“Die Dynamik für einen Aufbruch sei da. Doch erst wenn sich etwas ändere, hätten Menschen, die durch die Kirche Leid erfahren haben, auch eine Chance zu bleiben.
Das dominierende Gefühl meiner Kindheit war Angst.
Ich dachte immer:
Der Grund liegt bei mir.