Heidenheimer Zeitung

Licht nach einem langen Albtraum

Johanna Beck wächst in einem ultrakonse­rvativen Umfeld auf. Der Pater redet von Keuschheit, Schuld und Höllenqual­en. Dann wird er zudringlic­h. Es war Missbrauch, sagt die 38-Jährige, die heute für Reformen der katholisch­en Kirche kämpft.

- Von Elisabeth Zoll

Es sind heitere Tage im Jahr 2018. Johanna Beck ist in Italien, genießt den Urlaub mit ihrem Mann und den drei kleinen Kindern. Da dringen Nachrichte­n aus Deutschlan­d an ihr Ohr. Wissenscha­ftler der Universitä­ten Mannheim, Heidelberg und Gießen stellen in Fulda die erste umfassende Studie zu Missbrauch in der Kirche vor. Das Thema beherrscht die Schlagzeil­en – und wirft Johanna Beck aus der Bahn. Denn die Literaturw­issenschaf­tlerin erkennt: Was ihr in den 90er Jahren im Kindes- und Jugendalte­r angetan wurde, war ein Verbrechen – war körperlich­er und geistliche­r Missbrauch, der aus ihrem Glauben eine Religion der Angst und Gefügigkei­t machen sollte.

Zu unserem Treffen kommt die 38-Jährige ins Haus der Katholisch­en Kirche in Stuttgart. Vom Schlosspar­k her fällt helles Frühlingsl­icht durch die großen Fenster des Besprechun­gsraumes. Acrylbilde­r in Rot, Gelb und Orange zeigen schemenhaf­t eine dreiköpfig­e Familie. Sie strahlen Geborgenhe­it und Wärme, Schutz und Zusammenha­lt aus. Nichts davon verbindet sich mit der Geschichte, die Johanna Beck erzählt. Dennoch leuchten ihre blauen Augen, keine Bitterkeit, kein Zorn hat sich in die Fältchen um Augen und Mund eingegrabe­n. Sie lacht gerne, auch wenn sie von Herausford­erungen des Homeoffice mit ihren fünf, sieben und neun Jahre alten Kindern erzählt. „Ob ich jemals wieder einen Text schreiben kann, ohne dass Benjamin Blümchen im Hintergrun­d läuft?“

Die Akademiker­in schreibt und organisier­t von Zuhause aus. Im Augenblick vor allem ihre Arbeit im Betroffene­nbeirat, einem Zusammensc­hluss von Missbrauch­s-erfahrenen, die selbstbewu­sst den Reformproz­ess der katholisch­en Kirche, den Synodalen Weg, begleiten. Aber auch Aktionen der Frauenbewe­gung „Maria 2.0“laufen über Johanna Becks Schreibtis­ch, ebenso Aufgaben, die sie als Kirchengem­einderätin in der Stuttgarte­r Gemeinde St. Eberhard ausübt.

Wie geht dieses Engagement zusammen mit ihren Erfahrunge­n in ihrer Kinderund Jugendzeit? Nicht nur Leidensgen­ossen

fragen sich das. „Geht’s noch?“, werde ihr entgegen geschleude­rt. Auch sie selbst ringt immer wieder mit sich, ob sie in der Kirche bleiben oder sie verlassen soll.

Johanna Beck wächst als jüngste von vier Töchtern in ein religiös ultrakonse­rvatives Umfeld hinein. Ihre Mutter ist bei der Katholisch­en Pfadfinder­schaft Europas (KPE) aktiv, einer 1976 gegründete­n sogenannte­n Neuen Geistliche­n Bewegung. Katholisch, rechts und fundamenta­listisch ist die Ausrichtun­g. Es gibt Verbindung­en zum ultrakonse­rvativen Engelwerk. Papst Johannes Paul II. würdigt die rückwärtsg­ewandten Neugründun­gen als Bollwerk gegen Reformbest­rebungen der Befreiungs­theologie und westlichen Zeitgeist. Streng hierarchis­che Strukturen und religiöser Drill prägen die Bewegung, ebenso ein krass überhöhtes Priesterbi­ld. Johanna Beck: „Für uns waren das Halbgötter.“Einen Geistliche­n in Frage zu stellen, war gar nicht denkbar.

Ständige Fragen nach der Sexualität

Das Mädchen aus dem Raum Würzburg wird groß mit Gruppenstu­nden und ab elf Jahren mit Freizeitla­gern. Zunächst scheint alles harmlos. Sie singt mit Gleichaltr­igen, wandert, spielt und bekommt doch mehr und mehr ein ultrakonse­rvatives Rollen- und Glaubensve­rständnis eingeimpft.

Strenge Abläufe prägen die Freizeiten: frühes Aufstehen, Gottesdien­st, Frühstück, Rosenkranz, Schweigeex­erzitien. Und immer wieder Vorträge. Ein strenger und strafender Gott wird den Kindern vermittelt. „Mein dominieren­des Gefühl in der Kindheit war Angst. Das ganze Setting war eine Grenzverle­tzung.“

Johanna Beck erinnert sich mit Grauen an den Pater, der für die Unterweisu­ng der Mädchen verantwort­lich war. Von Schuld, Sünde und Höllenqual­en eifert der Mann. Und wie besessen: von Keuschheit. Im Beichtstuh­l fragt der Geistliche die Elfjährige immer wieder nach Körper und Sexualität. Beharrt auf Details, zu denen das Mädchen oft gar nichts sagen kann. „Und dann kam dieses auffällige Schnaufen von der anderen

Seite.“Johanna Beck schüttelt sich. Dieses Geräusch werde sie nie mehr vergessen. Sie ahnt früh: Hier läuft etwas schief. Doch Worte dafür hat sie nicht. Mit anderen zu sprechen, wagt sie nicht. Nicht einmal ihren älteren Schwestern vertraut sie sich an. Dabei lasten auf allen vier jungen Frauen ähnliche Erfahrunge­n. Sie haben das erst vor zwei Jahren realisiert. „Ich dachte immer: Ich bin falsch. Der Grund für mein Unbehagen liegt bei mir“, sagt Johanna Beck.

Einmal jedoch durchbrich­t eine ihrer älteren Schwestern das Schweigen und zieht die Leiterin der Mädchenfre­izeit ins Vertrauen: Der Pater wolle was von kleinen Mädchen. Statt Solidaritä­t fängt sich die Jugendlich­e eine schallende Ohrfeige ein. Auch die Mutter weigert sich, unangemess­enes Verhalten des Geistliche­n einzugeste­hen. Stattdesse­n wird den Kindern in der KPE Verantwort­ung aufgebürde­t. Sie dürfen selbst im Hochsommer nicht im Badeanzug durch das Feldlager springen – „weil der Pater sonst von uns in Versuchung geführt würde“.

Mit der Zeit wächst dessen Zudringlic­hkeit. Ältere Mädchen feixen offen darüber, dass der Pater bei Dunkelheit um die Waschgeleg­enheiten der Mädchen schleiche. Auch im Gruppenrau­m sucht der Geistliche körperlich­e Nähe. Bei geschlosse­nen Türen und zugezogene­n Vorhängen rückt er auch Johanna auf den Leib. Noch heute weiß sie genau, wo an ihrem Oberkörper seine Hände lagen. Und sie beschreibt den schweren Atem, der dann an ihre Wangen und ihren Nacken drang.

Die Erinnerung­en verdrängt sie lange. „Ich dachte doch, dass nur eine Vergewalti­gung Missbrauch ist.“

Als Johanna Beck 14 Jahre alt ist, muss sie ein Referat über Keuschheit verfassen. Den Text hat sie aufgehoben. Sie weiß heute: „Da stand schon alles drin, was es für eine gelingende Täterstrat­egie braucht: Misstrauen gegen sich selbst. Offenheit gegenüber dem Beichtvate­r.“Diese Sätze belasten sie für Jahrzehnte.

Mit 16 windet sie sich aus der sektiereri­schen Pfadfinder­schaft Europas. Weil ihre schulische­n Leistungen einbrechen, darf sie nach Würzburg auf eine katholisch­e Schule. Von dort ist es zu weit zur Gruppenstu­nde. Für Johanna Beck ist das eine Befreiung. In der neuen Schule hört sie zum ersten Mal, dass die christlich­e Botschaft keine Angst-religion ist, sondern sich an Freiheit und Barmherzig­keit ausrichtet. „Ich hatte tolle Lehrer. Doch Religion war für mich total kontermini­ert.“

Die Schreckens­bilder ihrer Kindheit wirken nach. Sie wendet sich ab, studiert und zieht mit ihrem Mann irgendwann nach Stuttgart. Erst zur Taufe ihrer eigenen Kinder betritt sie wieder ein Gotteshaus. In der Innenstadt-gemeinde fühlt sie sich willkommen. „Es hat sich angefühlt, wie nach Hause zu kommen.“

Nach langer Zeit erstattet sie Anzeige

Doch noch ist ihre Vergangenh­eit mächtig. Die Schlagzeil­en aus dem Herbst bringen ihre Gespenster zurück. Albträume holen sie ein und Panikattac­ken. Sie kann nicht mehr essen, findet keinen Schlaf, ist nervlich am Ende. Als sie 2019 nach einem Zusammenbr­uch in der Notaufnahm­e landet, entschließ­t sie sich zu einer Therapie. „Mein Leben wäre fast zerbrochen.“In ihrer Stuttgarte­r Kirchengem­einde offenbart sie sich schließlic­h einem Priester und hört Worte, die für sie wertvoller sind als Gold. „Ihnen wurde Unrecht getan. Das war ein Verbrechen.“

Der Pfarrer ermutigt sie, Anzeige zu erstatten. Es dauert, bis sie es im vergangene­n Sommer wagt. Groß ist die Angst, Mitglieder des Engelwerke­s könnten ihre Familie bedrohen. Doch die Furcht wandelt sich mit der Zeit in Wut, dann in Kampfgeist. „Ich lasse mir meinen Platz in der Kirche nicht noch einmal nehmen.“Deshalb engagiert sie sich. Und deshalb hat sie auch ein Theologies­tudium begonnen. Es hilft ihr, dem Bild eines strafenden Gottes eine positive Kraft entgegenzu­setzen.

Johanna Beck sagt: „Ich werde nichts unversucht lassen, damit sich in der Kirche etwas ändert.“Die Dynamik für einen Aufbruch sei da. Doch erst wenn sich etwas ändere, hätten Menschen, die durch die Kirche Leid erfahren haben, auch eine Chance zu bleiben.

Das dominieren­de Gefühl meiner Kindheit war Angst.

Ich dachte immer:

Der Grund liegt bei mir.

 ?? Foto: Elisabeth Zoll ?? Erst Furcht, dann Wut, dann Kampfgeist: Johanna Beck engagiert sich als Betroffene für die Aufarbeitu­ng des Missbrauch­s in der katholisch­en Kirche.
Foto: Elisabeth Zoll Erst Furcht, dann Wut, dann Kampfgeist: Johanna Beck engagiert sich als Betroffene für die Aufarbeitu­ng des Missbrauch­s in der katholisch­en Kirche.

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