Hat Geld blind gemacht?
Die evangelische Landeskirche lässt das Geschehen in ihren Elite-gymnasien durchleuchten.
Stuttgart. Die Orte haben klangvolle Namen: evangelisch-theologisches Seminar Maulbronn, evangelisches Seminar Blaubeuren. Hier wurde und wird eine protestantische Elite ausgebildet. Pfarrer und Pfarrerinnen fanden in den ehrwürdigen Klosterhallen ihre Berufung. Geformt wurden aber auch Führungskräfte in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Und genau hier soll sich in den 50er und 60er Jahren großes Unrecht ereignet haben.
Ein Förderer von Jugendeinrichtungen der evangelischen Kirche soll Geld und Einfluss genutzt haben, um sich Knaben gefügig zu machen. Auch bei Reisen des Hymnus-chors und Freizeiten des Cvjm-esslingen im Dulkhäusle soll es zu sexualisierter Gewalt gekommen sein. Die Offenbarung eines früheren Chorsängers und Seminaristen brachte Nachforschungen ins Rollen. Er hatte sich 2016 an die „Unabhängige Kommission“unter Vorsitz des ehemaligen Stuttgarter Richters Wolfgang Vögele gewandt.
Doch warum hat der Betroffene so lange geschwiegen? Oder wurden frühere Hinweise auf den Mäzen ignoriert? Andeutungen, dass etwas im Argen lag, hatte es möglicherweise früher gegeben, mutmaßt Ursula Kress, die Beauftragte für Chancengleichheit in der Evangelischen Landeskirche. Schließlich war der Fahrer des Industriellen wegen Kuppelei rechtmäßig verurteilt worden. Heute interessiere: Welche Strukturen haben es dem inzwischen verstorbenen Verdächtigen ermöglicht, unbehelligt in den Seminaren ein und aus zu gehen?
Betroffene werden befragt
Dieser Frage soll eine Studie nachgehen, die die Evangelische Landeskirche Württemberg bei der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
der Uni-klinik Ulm in Auftrag gibt. „Wir wollen wissen, was damals geschah und wir wollen daraus lernen“, sagt Stefan Werner, Direktor im Evangelischen Oberkirchenrat.
Die Studie, die Miriam Rassenhofer verantwortet, ist auf drei Jahre angelegt. Sie soll zusammen mit Betroffenen erarbeitet werden. Ziel ist nicht nur Aufklärung. In einem zweiten Schritt sollen Präventionskonzepte weiterentwickelt und bereits existierende Vorgaben auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden. Rassenhofer: „Wir wollen Empfehlungen formulieren, wie Schutzkonzepte
in den Einrichtungen weiterentwickelt werden können.“
Ursula Kress weist darauf hin, dass die Landeskirche bis Ende 2020 insgesamt 900 000 Euro an Anerkennungsleistungen für 152 von Missbrauch Betroffene bezahlt hat. Der Großteil von ihnen hat in Heimen der Diakonie traumatische Erfahrungen erlitten, 15 Betroffene haben sexualisierte Gewalt von Pfarrpersonen erfahren. Der Hilfebedarf der Betroffenen ist zum Teil dramatisch groß. Die Unabhängige Kommission stellt weitere Unterstützungsleistungen in Aussicht.