Schikane mit System
Nach jahrzehntelangem Schweigen berichten „Verschickungskinder“von körperlichen und seelischen Misshandlungen – nicht zuletzt in süddeutschen Kurheimen. Ein Buch bringt Licht ins Dunkel.
Dieses Buch ist nichts für schwache Nerven. Die renommierte Autorin Hilke Lorenz hat sich in ihrer neuen Arbeite in Thema vorgenommen, das unter die Haut geht: Verschickung s kinder, genauer gesagt, das Schicksal von Mädchen und Jungen, die von ihren Eltern vor allem in den 1960er und 70er, aber auch noch in den 1980er Jahren in die Kur entsandt wurden. In der Überzeugung, der Aufenthalt in einem entsprechenden Heim werde der persönlichen und körperlichen Entwicklung des Nachwuchses dienen und Krankheiten heilen. Was viele Kinder vor Ort erlebten, war ein System der Schikane. Manche schaffen es erst jetzt, im Erwachsenenalter, über das Geschehen zu sprechen.
Hilke Lorenz lässt einige von ihnen zu Wort kommen. Sabine etwa erzählt von ihren Erinnerungen an das Heim in Bad Rappenau, Helmut von seinem Aufenthalt in Herrlingen, Andrea blickt zurück auf die Wochen in Bad Friedrichshall. Was sie und andere berichten, ist eine deutschlandweite und nicht zuletzt eine süddeutsche Geschichte. Sie handelt von Einschüchterung, Übergriffen auf Körper, Seele und Gesundheit, von Traumata und von Eltern, dies ich gegen das V er schickungssyste mund ihre Folgen nicht zu wehren wagten oder wussten.
Rund acht Millionen Kinder, vom zweijährigen bis zum pubertierenden, wurden in die diversen Erholungsheime geschickt – meist auf Anraten oder Anweisung von Ärzten. Die Autorin beschreibt, dass dahinter nicht zuletzt handfeste wirtschaftliche Interessen verschiedener Akteure steckten. Dass Mediziner, Heimbetreiber, Krankenkassen und Sozialverbände dabei einträgliche Geschäfte machten. So habe die„ G es und heits fürsorge industrie“Kinderärzte honoriert, wenn diesemitent sprechenden Verschreibungen zur Auslastung der Kinder kur heime beitrugen.
Müttern und Vätern hingegen war meist nicht einmal bewusst, dass es bei den Verschickungen in aller Regel allenfalls am Rande um das Wohl der Kinder ging. Letzteres spielte eine Nebenrolle in einer Zeit, die von der Eltern-generation der Nachkriegsepoche geprägt war. In der Werte wie Zähne zusammenbeißen, Gehorsam und Disziplin im Vordergrund der Erziehung und pädagogischen
Konzepte standen. Diese Eltern hatten selbst zumeist die damals übliche strenge Erziehung erlebt, die einherging mit Verlustängsten, Mangelerfahrungen und existenziellen Nöten aus den Kriegsjahren. „Viele Erwachsene dieser Zeit jedenfalls hatten Härte gegen sich selbst eingepaukt bekommen und das Durchhalten als Überlebensprinzip verinnerlicht“, schreibt die Autorin.
Der Kindeswille hingegen fand keine Beachtung. Es wurde weder hinterfragt, ob die Kinder bereit waren für einen Heimaufenthalt, der wochenlange Trennung von ihren Eltern bedeutete, noch spielte vor Ort ihr Wohlergehen eine Rolle. Im Gegenteil. Gemeinsam reisende Geschwister wurden getrennt, Bettnässer bestraft, Krankheiten ignoriert. „Das Augenmerk auf die Ökonomie dürfte mit dazu beigetragen haben, die Bedürfnisse weniger robuster Kinder als lästigen Störfaktor auszublenden“, schreibt die Autorin. Aber auch das Urvertrauen zwischen Kindern und Eltern wurde verletzt, die Verschickungserlebnisse führten zwangsläufig zu – selten ausgesprochenen – Vorwürfen gegen Mütter und Väter: Weshalb habt Ihr das zugelassen?
„Dann wirst Du was falsch gemacht haben“, lautete häufig die mit dem unterschwelligen Vorwurf des Ungehorsams gepaarte Antwort, wenn Kinder nach ihrer Rückkehr aus dem Heim mit den Eltern über Bestrafungen und Demütigungen sprechen wollten, denen sie dort ausgesetzt waren. Die meisten Mütter und Väter jener Zeit glaubten den Schilderungen ihrer Kinder schlicht nicht, das Handeln von Autoritäten wie Ärzten, Beamten oder Heimleitern hinterfragte „man“nicht. Bei den in ihrer Verunsicherung und Verzweiflung allein gelassenen Kindern stellte sich das große Schweigen ein. Begleitet von Selbstzweifeln: Habe ich übertrieben, war es wirklich so schlimm, habe ich das alles vielleicht nur geträumt? Erst heute, Jahrzehnte nach den Vorfällen, drängen die Erinnerungen hervor, in Gesprächsrunden staunen die Betroffenen: Das habe nicht nur ich erlebt, es war eine kollektive Erfahrung.
Die gelernte Historikerin und Journalistin Hilke Lorenz, selbst kein Verschickungskind, hat monatelang für das Buch recherchiert und mit rund 60 Betroffenen gesprochen. „Erste Tiefenbohrungen“seien das gewesen, sagt sie, „das hört nicht auf.“Aktenfunde im Staatsarchiv Ludwigsburg ergänzen das Puzzle, das sich aus den Berichten ergibt, zu einem verstörenden Gesamtbild.
Lorenz’ Arbeit hat dazu beigetragen, das baden-württembergische Sozialministerium auf den Plan zu rufen. Eine Landes-koordinierungsstelle soll eingerichtet werden, in der die Erkenntnisse von Verschickungskindern, Einrichtungsträgern und Mitarbeitern des Staatsarchivs zusammengeführt werden. Ein Ziel ist es, Verantwortliche wie Träger, Versicherungen oder Ärzteorganisationen dazu zu bewegen, ihre Archive zu öffnen, um noch mehr Licht in die dunklen Machenschaften zu bringen. Es ist das Verdienst dieses Buches, ein trübes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte aufgeschlagen zu haben. „Und es zeigt, dass gelebter Kinderschutz eine Daueraufgabe ist“, wie die Autorin abschließend bemerkt.
Der Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen Baden-württemberg e.v. kümmert sich um Menschen, die als Kinder und Jugendliche von 1949 bis weit in die 1980er Jahre in Kinderkur- und Kindererholungsheimen in Deutschland Leid und Unrecht erfahren haben. mail@verschickungsheime-bw.de www.verschickungsheime-be.de
Telefon: 0178 7362824