Wie das seltene Pflänzchen auf den Schlossberg kam
Orlaya grandiflora wird auch Schlossblume oder Heidenheimer Edelweiß genannt: Die seltene und geschützte Wiesenblume gedeiht auf dem Felsen unterm Hellenstein und hat eine besondere Geschichte.
An der Heidenheimer Marienstraße direkt vor der Zentralen Omnibushaltestelle (ZOH) steht eine 500 Kilogramm schwere Edelstahl-skulptur. Was hier gut vier Meter hoch aufragt, ist in der Natur eigentlich ein zartes, rund 30 Zentimeter großes Pflänzchen: Die Skulptur stellt ein Exemplar von Orlaya grandiflora dar.
Die Wiesenblume, auf Deutsch Breitsame oder Strahldolde genannt, hat als „Heidenheimer Schlossblume“eine besondere Geschichte. Zur Landesgartenschau wurde im April 2006 die 11 000 Euro teure Skulptur an der ZOH aufgestellt und soll seither Bewohner und Besucher auf das besondere botanische Kleinod aufmerksam machen. Entworfen wurde sie vom erst kürzlich verstorbenen Designer Bernd Weser von der Agentur Hüper.
Ein einziger Standort
Orlaya grandiflora steht auf der Roten Liste der verschollenen und gefährdeten Pflanzen Baden-württembergs. Verschollen ist sie in Heidenheim noch nicht, einige botanisch und geschichtlich interessierte Menschen hegen die Blume in Gärten und geben den Samen weiter. Auch am Schlossfelsen finden sich noch Exemplare. Jürgen Trittler listet in „Die Flora des Kreises Heidenheim“diesen Standort als einzigen für Orlaya grandiflora im ganzen Landkreis auf: „Auf besonnten Kalkfelsen und in Mauerfugen am Schloss Hellenstein und in Vorgärten.“
Wie zarte Spitzendeckchen
Was ist Besonderes an diesem einjährigen Gewächs, das sich von anderen Doldengewächsen wie der weit verbreiteten Wilden Möhre oder dem Wiesenkerbel am augenfälligsten durch ihre großen äußeren Kronblätter unterscheidet? An Spitzendeckchen erinnere die zarte Blüte, schwärmen Liebhaber der Pflanze. Sie wird auch das „Heidenheimer Edelweiß“genannt, und da kommt man dem Reiz der Orlaya grandiflora dann doch etwas näher: Die Pflanze ist einfach selten, vor allem in Deutschland findet man sie nur in wenigen Gegenden. Das mag zum einen damit zu tun haben, dass sie nur auf Kalk- und Mergelböden gut gedeiht, zum anderen mit ihrem Wärmebedürfnis zusammenhängen. Orlaya grandiflora stammt aus Südeuropa.
Darüber, wie die Pflanze über die Alpen bis nach Süddeutschland
kam, kann man nur spekulieren. Wahrscheinlich ist der Transport im Gepäck von Menschen, denn die Pflanze ist weniger als Gartenblume denn als Ackerunkraut bekannt und könnte ihren Samen zwischen Getreidekörner geschmuggelt haben.
Ein Dokument von 1912
Dokumentiert wurde ein massenhaftes Auftreten der Blume am Weißen Jura des Heidenheimer Schlossfelsens im Jahr 1912. Für die „Blätter des Schwäbischen Albvereins“schrieb im November 1912 der Heidenheimer Oberreallehrer Kreh einen Artikel über dieses Phänomen, der auch mit Fotos vom weiß leuchtenden Hang belegt ist. Darin heißt es: „Am Steilhang des Schloßberges trat eine unserer schönsten Doldenpflanzen, die Strahldolde (Orlaya grandiflora) in solcher Menge auf, daß, als sich die Blüten Mitte Juni öffneten, der ganze Hang einen prachtvollen, weißen Blütenteppich darstellte, der wochenlang in unveränderter Schönheit bewundert werden konnte. Die Veränderung des Landschaftsbildes war eine so starke, daß sie auch dem Laienauge von der Heidenheimer Hauptstraße aus ohne Weiteres auffallen musste.“
Ein neues Phänomen
Für den Autor war dieses Phänomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwas völlig Neues, und er hat sich auch bei älteren Heidenheimern umgehört: „Was an dieser Erscheinung zunächst merkwürdig ist, ist die Tatsache, daß früher niemals ein ähnliches massenhaftes Auftreten beobachtet wurde. Die ,ältesten Leute‘ der am Fuße des Berges liegenden Häuser behaupteten nicht nur, etwas Derartiges noch nie gesehen zu haben, sondern versicherten sogar, daß die Pflanze zum allerersten Male an diesem Platze erschienen sei.“
In den Gärten am Schlossberg habe es die Pflanze aber schon mindestens zehn Jahre zuvor gegeben – es scheint also wahrscheinlich, dass die Pflanze, begünstigt durch einen milden Winter und einen darauf folgenden warmen Sommer, in Massen ausgewildert ist. Für kein früheres Jahr ist ein üppiges Auftreten der Orlaya grandiflora in Heidenheim dokumentiert. Der Glaube, die Pflanze gedeihe schon seit mindestens zwei Jahrhunderten in Heidenheim, gehört eher ins Reich der Märchen. Und so liest sich auch, was von Ernst Staudenmaier dazu veröffentlicht wurde: Eine italienische Prinzessin, die zu Besuch auf Schloss Hellenstein weilte, soll die Orlaya in einem Blumenstrauß aus ihrer Heimat mitgebracht haben. Eine Magd habe den verblühten Strauß über die Mauer geworfen, wo die Blume dann aussamte. Verstärkt worden sein dürfte der Glaube an ein Vorkommen der Pflanze vor 1912 durch Ludwig Finckhs Roman „Die Kaiserin, der König und ihr Offizier“, in dem es um die historische Figur des in Heidenheim geborenen Generals Johann Jakob Wunsch geht. Das 1938 im Deutschen Volksverlag München erschienene, stark von der nationalsozialistischen Ideologie durchdrungene Buch beschreibt das Leben des Heidenheimer Kürschnersbuben Johann Jakob Wunsch und seine militärische Karriere vom einfachen Soldaten bis zum General Friedrichs des Großen. Bildreich und pathetisch zeichnet Finckh ein Bild von Wunschs Geburtsstadt.
Botanische Unkenntnis
Die Schlossblume taucht als schicksalhaftes Motiv auf, das meist von besonderen Ereignissen kündet: „Über Nacht war am Steilfelsen von Hellenstein eine Blume aufgeblüht, weiße Sterne auf hohen Stauden, wie vom Himmel gefallen. Der graue Stein war schneeweiß gefärbt. (...) ,Hab‘s mir gedacht, daß heute noch etwas kommt. Die Schloßblume blüht. Es geschehen Zeichen, sagt der Berthold, – vor zwanzig Jahren hab’ er sie zum letztenmal gesehen.‘ (...) Es war Herbst und die Blätter wollten sich färben.“
Bereits an dieser ersten Stelle im Buch, an der die Schlossblume auftaucht, wird klar, dass der Autor die Pflanze als literarisches Mittel verwendet, ohne botanische Kenntnisse zu haben: Orlaya grandiflora blüht im Juni und Juli, und nicht, wenn die Blätter sich zu färben beginnen, also im Oktober.
Wie kam der Autor überhaupt zur Schlossblume? Darauf gibt uns Gotthold Wurster einen Hinweis. Der Vater der Autorin Margarete Hannsmann und erste Heidenheimer Stadtarchivar (verstorben 1942) schreibt über den Roman von Ludwig Finckh: „Im Wesentlichen auf den Heidenheimer Forschungen fußend gibt der Roman ein anschauliches Bild von Leben und Werk des Generals und seiner Zeit.“Die Heidenheimer Forschungen waren aber nun hauptsächlich das Werk von Wurster selbst, der auch die Geschichte vom massenhaften Auftreten der Schlossblume im Jahr 1912 gekannt haben dürfte. Im Roman einen Zusammenhang herzustellen, bot sich insofern an, als das Geburtshaus von Wunsch an der Hauptstraße lag, und zwar direkt unterhalb des Felsens, an dem die Schlossblume in jenem Sommer 1912 in so bemerkenswerter Weise aufblühte.
Heimatliche Erinnerungen
Ein zweites literarisches Werk, in dem die Pflanze erwähnt wird, sind die überaus lesenswerten Erinnerungen von Karl Götz an seine Kindheit in Heidenheim, die den Titel „Der goldene Morgen“tragen. Der 1903 geborene Autor erzählt von einer Begegnung, die er in den 1930er-jahren in Buenos Aires hatte. Er trifft dort eine ausgewanderte Heidenheimerin: „Auf dem Tisch lagen vielerlei heimatliche Erinnerungen: Bilder, gepreßte Blumen, darunter Märzenblümchen und die seltene Orlaya, eine Strahlendolde, die an den steilsten Felsen unseres Schloßberges wächst.“
Auch in Fritz Schneiders „Heidenheimer Heimatbuch“gibt es einen Hinweis auf die Orlaya grandiflora, der mit Bildern belegt ist. Diese stammen von dem Schnaitheimer Fotografen Johannes Häußermann, sind aber nicht datiert.
Heute ein Naturdenkmal
Mittlerweile bekommt die Schlossblume auch Unterstützung von der Unteren Naturschutzbehörde: Diese kümmert sich darum, ihren Lebensraum auf den Felsen unterhalb von Schloss Hellenstein offen zu halten, denn Flieder, Ahorn und Holunder breiten sich dort massiv aus und beschatten den Standort. Der Schlossfelsen ist nach dem Bundesnaturschutzgesetz als Naturdenkmal ausgewiesen, den insbesondere die seltene Orlaya grandiflora schützenswert macht.