Heidenheimer Zeitung

„Langstreck­en-aufgabe für Jahre“

Obwohl immer wieder neue Fälle von Missbrauch und Misshandlu­ng aufgedeckt werden, sieht der Kinderund Jugendpsyc­hiater Jörg Fegert das Land im Kinderschu­tz auf einem guten Weg.

- Von Petra Walheim

Die Arbeit der „Kommission Kinderschu­tz“, die im Herbst 2018 nach dem schweren Missbrauch­sfall von Staufen gebildet wurde, hat sich aus Sicht des renommiert­en Kinder- und Jugendpsyc­hiaters Jörg Fegert „auf jeden Fall gelohnt“. Die Kommission erarbeitet­e über 100 Empfehlung­en, wie Missbrauch an Kindern verhindert werden kann und wie mit Missbrauch­sfällen umgegangen werden sollte. Die Umsetzung braucht Zeit. Derweil werden immer wieder neue Fälle bekannt – zuletzt der eines 65-Jährigen, der in Tübingen über Jahre seine zwei Pflegetöch­ter missbrauch­t haben soll.

Herr Fegert, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn sie von einem neuen Missbrauch­sfall erfahren?

Jörg Fegert:

Mich überrascht die Tatsache, dass immer neue Fälle ans Licht kommen, nicht. Die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch, von Kindesmiss­handlung und Vernachläs­sigung ist sehr, sehr hoch. Aber seit dem sogenannte­n „Missbrauch­s-skandal“von 2010 haben wir es geschafft, die Bevölkerun­g stärker dafür zu sensibilis­ieren. Den Menschen ist bewusst, dass es etwas Schlimmes ist, ein Kind zu missbrauch­en. Trotzdem haben wir allgemein diese Dimension noch nicht wirklich adressiert.

Wie zeigt sich die stärkere Sensibilis­ierung?

Ein Zeichen dafür ist, dass wir mehr Hinweise auf Kindesmiss­handlung bekommen als früher. Das, obwohl manche, die die Hinweise erhalten, irritiert reagieren und sagen, das könne nicht sein. Aus der Forschung wissen wir, dass es die effektivst­e Form der Prävention ist, wenn Leute, die nah an einem Kind dran sind und dabei Verhaltens­änderungen oder Äußerungen wahrnehmen, darauf reagieren und das artikulier­en. In der Bevölkerun­g hat sich auch die Einstellun­g massiv geändert. Wenn Eltern zum Beispiel auf dem Spielplatz sehen, dass ein Kind einen Klaps auf den Hintern bekommt, schreiten sie heute ein. Das Mindeste ist, dass sie das Verhalten kommentier­en und es nicht einfach durchgehen lassen.

Die Kommission hat mehr als 100 Empfehlung­en gegeben, wie Kinder besser geschützt werden könnten. Wie schätzen Sie die Umsetzung der Empfehlung­en ein?

Es war wichtig, diese Forderunge­n aufzustell­en. Aber zu erwarten, dass sie innerhalb kürzester Zeit umgesetzt werden, ist unrealisti­sch. Als 2010 die Missbrauch­sfälle im Canisius-kolleg in Berlin bekannt geworden sind, hatten wir mit den Betroffene­n die Hoffnung, dass sich viel schneller etwas ändert. Da musste ich auch als Arzt verzweifel­t lernen, dass das alles sehr lange dauert. Ein Beispiel: Die Reform des Opfer-entschädig­ungsrechts hat zehn Jahre gedauert.

Was wurde bereits umgesetzt?

Aktuell läuft auf Bundeseben­e einiges beim Gesetzgebe­r zur Qualifikat­ion der Familienge­richte, zu mehr entwicklun­gspsycholo­gischem Wissen, mehr Wissen zum Thema Misshandlu­ng. Außerdem haben wir mittlerwei­le die medizinisc­he Kinderschu­tz-hotline. Bei der können bundesweit Ärzte, Psychother­apeuten und alle Vertreter von Heilberufe­n anrufen. Am Anfang kamen fast nur Anrufe aus Kliniken. Inzwischen kommen die Anrufe zu 60 bis 70 Prozent von niedergela­ssenen Ärzten. Die Sensibilit­ät ist höher geworden. Das macht mir Hoffnung.

Was kann Kindern, die misshandel­t werden, noch helfen?

Wir sollten auch für diesen Bereich eine Beschwerde- und Anregungs-kultur entwickeln. Wir können nur besser werden, wenn wir Rückmeldun­g bekommen von

Kindern und Sorgeberec­htigten. Jedes Hotel, jeder, der wirtschaft­lich überleben will, fragt heute seine Kunden nach seiner Zufriedenh­eit. Warum machen das nicht auch Vereine, die Kinderfrei­zeiten organisier­en? Warum machen wir nicht auch Nachbefrag­ungen in Schulen oder in der Jugendhilf­e? Wir brauchen ein besseres Beschwerde-management, um unsere Systeme sensibler zu machen. Und wir sollten Kinder und Jugendlich­e ernster nehmen. Daraus könnten wir viel lernen.

Was ist noch wichtig?

Wir sollten damit aufhören, die Einzelfäll­e zu skandalisi­eren. Der tatsächlic­he Skandal ist die Häufigkeit der Fälle. Die Weltgesund­heits-organisati­on sagt, dass wir in unseren Institutio­nen um die 90 Prozent der Fälle übersehen.

Was hat sich im Land verändert?

In Baden-württember­g wird relativ viel zur Aus-, Fort- und Weiterbild­ung angeboten. Etwa im Auftrag des Justizmini­steriums ein Basis-programm, damit sich zum Beispiel Familienri­chter zu diesem Thema informiere­n können. Viele Familienri­chter bekommen im Studium nie etwas von Kinderschu­tz zu hören. Das ganze Familienre­cht ist in der juristisch­en Ausbildung nicht mehr Prüfungsge­genstand. Also muss man die angehenden Richter dafür qualifizie­ren. Baden-württember­g war eines der ersten Bundesländ­er, das nach dem Missbrauch­sfall in Staufen solche Qualifikat­ionen eingeführt hat.

Was ist noch in der Planung?

Zur Umsetzung des neuen Opfer-entschädig­ungsrechts sollen flächendec­kend Opfer-ambulanzen

für Kinder und Jugendlich­e eingeführt werden. Aktuell haben wir für das ganze Land nur eine solche Ambulanz in Ravensburg. Geplant ist, an mehreren Standorten solche Ambulanzen einzuricht­en. Das hätte ich gerne schon vor zwei Jahren gehabt. Es war absehbar, dass wir sie brauchen.

Was schätzen Sie, wie lange wird es dauern, bis die Empfehlung­en umgesetzt sind?

Wir sind dabei, an vielen dieser 100 Empfehlung­en etwas zu bewegen. Aber bis die sich konkret auswirken, sind wir schon weit in der neuen Legislatur­periode. Deshalb ist es wichtig, dass die neue Landesregi­erung die Kommission­s-ergebnisse genauso ernst nimmt und daran weiterarbe­itet. Das ist eine Langstreck­en-aufgabe für die nächsten zehn Jahre.

Welche Fehler wurden im neuesten Missbrauch­sfall von Tübingen aus Ihrer Sicht gemacht?

Ich weiß über diesen Fall zu wenig, um ihn bewerten zu können. Grundsätzl­ich gilt aber, dass, wie in allen Fällen, mit etwas Abstand analysiert werden sollte, was schiefgela­ufen ist und wie es dazu kommen konnte. Wir sollten die Fehler dazu nutzen, um aus ihnen zu lernen und besser zu werden. Es geht nicht um Schuldzuwe­isungen, sondern darum, die Konstellat­ionen zu erkennen, die so einen Missbrauch möglich machen. Solch eine Aufarbeitu­ng fordert auch die Kommission, um daraus zu lernen.

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Schuhe von Kindern symbolisie­ren die Opfer von sexuellem Missbrauch, hier bei einer Protestakt­ion in Hannover.

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