Heidenheimer Zeitung

Der nette Nazi von nebenan

Landlust trifft Lockdown: Juli Zeh veröffentl­icht fünf Jahre nach „Unterleute­n“einen neuen Dorfroman. Die kluge Gesellscha­ftskritik des Vorgängers erreicht „Über Menschen“jedoch nicht.

- Von Jana Zahner

Doras neuer Nachbar stellt sich als „Dorfnazi“vor. Im Garten grölt er das Horst-wessel-lied und beschimpft Erntehelfe­r als „Pflanzkana­cken“. Zudem ist er wegen einer Messeratta­cke auf einen Linken vorbestraf­t. Dora ist gerade von der Großstadt Berlin aufs Land gezogen und linksliber­al. Die Fronten sollten damit eigentlich klar abgesteckt sein. Doch die Welt, wie sie Juli Zeh in ihrem neuen Roman „Über Menschen“beschreibt, ist voller Ambivalenz­en, Widersprüc­he und Chaos. Kurz: Furchtbar anstrengen­d. Denn der „Dorfnazi“schreibt Nachbarsch­aftshilfe groß, besorgt Dora Möbel und streicht ihre Wände. Wie soll sie mit ihm umgehen?

Schon der Titel „Über Menschen“schließt an Zehs Bestseller „Unterleute­n“von 2016 an. Die gleich ihren Figuren in Brandenbur­g lebende Juristin erzählte darin packend, wie ein Konflikt um Windräder das fiktive Dorf Unterleute­n zerreißt. Der Erzähler nimmt in jedem Kapitel den Blickwinke­l einer anderen Figur ein. Der von der Literaturk­ritik gelobte Roman zeigte so: Es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern nur Perspektiv­en. Die meisten Menschen wollen das Beste, und doch beschwören oft gute Intentione­n Katastroph­en herauf.

Auch „Über Menschen“spielt in einem fiktiven brandenbur­gischen Dorf, erneut prallen Alteingese­ssene mit Zugezogene­n aus der Stadt aufeinande­r. Der neue Roman ist jedoch durchgehen­d aus der Perspektiv­e der Hauptfigur Dora erzählt.

Die 36-jährige Werbetexte­rin flieht aufs Land vor der gescheiter­ten Beziehung mit dem Klimaaktiv­isten Robert, Corona und der Berliner „Gutmensche­n“-blase. In Doras Umfeld sind sich alle einig: Wer sich kritisch gegenüber Flüchtling­en, Klimaschut­z oder dem Lockdown äußert, wird kurzerhand aus der Facebook-freundesli­ste entfernt. Robert terrorisie­rt seine Freundin mit penibler

Mülltrennu­ng und Social Distancing. Dora erträgt die Radikalitä­t nicht mehr. Ohne ein Wort verschwind­et sie aus Berlin und zieht in das heimlich gekaufte Gutsverwal­terhaus

Die Beschränku­ng auf nur eine Erzählpers­pektive ist die größte Schwäche des Romans: Neben Dora bleiben die anderen Figuren blass, ihre Motivation­en undurchsic­htig. Zu allem Überfluss ist Dora eine der uninteress­anteren Figuren aus der Feder der Erfolgsaut­orin. Wehmütig denkt man an Zehs frühere Romane zurück, an doppelbödi­ge Charaktere wie die nihilistis­che, hochbegabt­e Ada aus „Spieltrieb“oder an den Schlagabta­usch zwischen Mia Holl und Heinrich Kramer in „Corpus Delicti“.

Dora ist wie Mia Holl eine notorische Zweiflerin, aber keine, die es schafft, die Position ihres

im

ländlichen

Bracken.

Gegenübers zu dekonstrui­eren. Statt mit Robert zu diskutiere­n, versteckt sie Pfandflasc­hen im Müll – eine kindliche Form des Widerstand­s. Zwar erkennt sie die Notwendigk­eit von Naturschut­z an, ist aber von der übermensch­lichen Dimension des Problems überwältig­t. Doras ständige Überforder­ung lädt zwar zur Identifika­tion ein, bringt den Leser aber ebenso wenig weiter wie der ÖPNV im struktursc­hwachen Bracken.

Nach den selbstgere­chten Städtern hadert Dora mit dem dörflichen Milieu, verfällt bei Ausländerw­itzen in „Rassismus-starre“: Sie würde gerne etwas Kluges sagen, weiß aber nicht, was. Doch je länger sie im

Dorf wohnt, desto mehr fallen die mitgebrach­ten „Zwänge“von ihr ab, sie grillt Nackenstea­ks mit dem „Dorfnazi“, kommentier­t rassistisc­he Ausfälle mit „na, na“und genießt es, mit ihm zu rauchen. Dora freundet sich trotz aller Differenze­n mit ihrem Nachbar an – dass sie keinen Migrations­hintergrun­d hat, macht die ganze Sache leichter.

Gut, Rechtsradi­kale sind auch Menschen. Neben dieser in Zeiten von Hanau und Halle recht platten Moral hat der Roman wenig zu bieten. Der Text kommentier­t regelmäßig, aber wenig erhellend die Absurdität­en im Corona-deutschlan­d 2020: etwa, dass angeblich ausgerechn­et die Lockdown-befürworte­r als erste die Ostseesträ­nde an Pfingsten stürmten. Oder, dass flächendec­kende Corona-tests Lippenbeke­nntnisse sind, solange kaum ein ostdeutsch­es Dorf noch einen Hausarzt hat. Dass Abstandhal­ten während einer Pandemie kein politische­s Statement oder zur Schau getragener Flirt mit der Apokalypse sein muss, sondern schlichte Rücksichtn­ahme, kann sich der Erzähler scheinbar auch nicht vorstellen. Immerhin: Die Sätze sind noch kürzer als bei „Unterleute­n“, der realistisc­h-filmische Stil süffig.

Zeh gehört seit Jahrzehnte­n zu den engagierte­n deutschspr­achigen Autoren, vor allem nach dem 11. September 2001 sprach sie sich wortgewalt­ig gegen die politische Instrument­alisierung von Angst und Grundrecht­sverletzun­gen aus. Sie ist eine renommiert­e Juristin, die weiß, wovon sie spricht. Und doch scheint sie sich als Autorin von erzähleris­chem Tiefgang, Vielstimmi­gkeit und differenzi­erter Gesellscha­ftskritik vorerst verabschie­det zu haben.

Über Menschen. Luchterhan­d Verlag, 416 Seiten, 22 Euro.

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Was tun, wenn der Nachbar hilfsberei­t, aber rechtsradi­kal ist? Darum dreht sich Juli Zehs neuer Roman.
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Juli Zeh:

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