„Aus allen Krisen zu neuer Energie“
Von Goethe, der vor 200 Jahren lebte, können wir in diesen schwierigen Zeiten durchaus etwas lernen, sagt der Literaturwissenschaftler. Ein Gespräch über lebensbedrohliche Krankheiten, Widerspruchsgeist und den Flügelschlag der Hoffnung.
Hand aufs Herz, wann haben Sie das letzte Mal etwas von Goethe gelesen? Wahrscheinlich geht es Ihnen wie vielen Menschen und Sie haben nur noch aus der Schulzeit seinen „Faust“und die Ballade vom „Erlkönig“in Erinnerung. Wird Johann Wolfgang von Goethe heute zu Unrecht vergessen? Kann man aus seinen Gedanken etwas für unsere schwierige Situation schöpfen? Sind sie vielleicht sogar ganz modern? Der Literaturhistoriker und Goethe-spezialist Dieter Borchmeyer (79) spricht im Interview über „die unerhörte Lebensdisziplin“des deutschen Dichters, der auch der Politik heute manches mit auf den Weg geben könnte.
Herr Borchmeyer, welche Krisen musste Goethe in seinem Leben bewältigen?
Gesundheitliche Krisen hat er oft genug durchgemacht. Schon bei seiner Geburt wäre er beinahe gestorben. Das Bild, dass Goethe ein meist gesunder Mensch im Unterschied zu dem ewig leidenden Schiller war, stimmt nicht. Sein ganzes Leben ist von mehr oder weniger lebensbedrohlichen Krankheiten durchzogen: eine schwere Tuberkulose in seiner Leipziger Studentenzeit, dann hatte er eine Kopfrose, Nierenkoliken, Gichtanfälle, Bluthusten, mehrere Blutstürze, möglicherweise einen Schlaganfall, jedenfalls zwei Herzinfarkte und so fort. Es gab kaum vier Wochen, in denen er sich wirklich wohl fühlte, hat er einmal gesagt.
Immerhin wurde er 82 Jahre alt . . .
Dass er so lange gelebt hat, war vor allem für die damaligen Verhältnisse ein Wunder. Aber alt zu werden, sah er als seine Pflicht an. Als ein von ihm geschätzter Gelehrter mit 75 Jahren starb, sagte Goethe: „Was doch die Menschen für Lumpen sind, dass sie nicht Courage haben, länger auszuhalten als das!“
Wie hat Goethe das geschafft?
Mit einer unerhörten Lebensdisziplin. Und der Grundüberzeugung, dass man sich nicht von seiner Physis unterkriegen lassen solle. Aus allen Krisen, auch den Liebeskrisen – denken wir nur an die Krise, die „Werthers Leiden“zugrunde liegt, – hat er sich immer wieder zu neuer Lebensenergie aufgerafft.
Können wir heute etwas daraus lernen?
Sicherlich. Goethe war ein hochanfälliger Mensch, aber er hat sich nie gehen lassen. Er litt auch immer wieder unter Melancholie und Schwermut, aber er hat sich doch stets mit größter Energie von solchen Verstimmungen befreit. Er konnte recht unerbittlich sein, wenn er in seiner Umwelt erlebte, dass man sich durch Gemütstrübungen von seinen Verpflichtungen gegenüber dem Leben abhalten ließ. Das gilt auch für den Umgang mit der Zeit.
Zeit sollte bei Goethe nicht verschwendet werden . . .
Dennoch konnte er sehr gesellig sein. Da hat er nicht auf die Uhr geschaut. Er lud ja ständig zum Mittagessen ein und hat dabei schon kräftig getrunken und gegessen. „Er frisset entsetzlich“, hat der Schriftsteller Jean Paul von ihm gesagt. Aber nach dem Essen fing die Arbeit für Goethe wieder an. Wie er seine Zeit strukturiert hat, ist wirklich großartig. Wenn man dagegen sieht, wie die Menschen heute ihre Zeit verplempern und mit sinnlosen Unterhaltungssendungen im Fernsehen totschlagen, kann einem schon schlecht werden.
Gerade während der Corona-krise lesen die Menschen wieder mehr. Aber kaum Goethe...
Dabei passen seine Gedichte hervorragend in die heutige Zeit. Sie können einen Menschen ganz plötzlich beleben. Hoffnung war ein sehr wichtiger Begriff für Goethe. Die Hoffnung hat er nie aufgegeben. Wie im Gedichtzyklus „Urworte. Orphisch“: „Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt: / Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer / Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt: / Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen; / – ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!“Das ist der Flügelschlag der Hoffnung, mit dem man die Vergangenheit hinter sich lässt.
Und die Romane – welche von ihnen sollte man jetzt lesen?
„Die Wahlverwandtschaften“! In ihrer naturwissenschaftlichen Grundierung und psychologischen Abgründigkeit sind sie ungeheuer modern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen 1949 Berliner Schulkinder zum 200. Geburtstag Goethes ein Büchlein mit dem Titel „Goethe. Lebensbild.“Sollte man eine solche Aktion in der jetzigen Krise wiederholen?
Ja, wenn man dafür Abnehmer findet. Die Situation nach dem Krieg war natürlich eine ganz besondere, da der Nationalsozialismus die ganze deutsche Kultur sozusagen niedergetreten hatte. Man suchte damals die Werte der deutschen Kultur wiederzugewinnen. Da war Goethe wichtiger denn je. In den fünfziger Jahren gab es einen regelrechten Goethe-kult. Und heute? Tja, es gibt den Film „Fack ju Göhte“. Irgendwo scheint Goethe bei der Jugend noch präsent zu sein.
Haben Sie den Film gesehen?
Nein. Nur den Trailer.
Hatten Sie Hemmungen?
Ich bin kein so großer Kinogänger. Aber man sieht doch, dass man zumindest mit dem Namen Goethe immer noch ein Publikum locken kann.
Konnten Sie als junger Mensch schon etwas mit Goethe anfangen?
Ich bin in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus aufgewachsen, wo Goethe immer ein Begriff war. Und eine Urerinnerung ist eine Aufführung der „Iphigenie auf Tauris“bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Aus Recklinghausen stamme ich nämlich, und die Ruhrfestspiele wurden nach dem Krieg aus einer wirtschaftlichen Notsituation heraus geschaffen. Die Hamburger Theater wurden aus den Zechen um Recklinghausen kostenlos mit Kohle beliefert, dafür gaben sie einmal im Jahr dort Gastspiele.
Und da war für mich die „Iphigenie auf Tauris“eine Sternstunde.
Wie alt waren Sie damals?
Ich war 15 Jahre alt. Am Schluss des Stückes beim „Lebt wohl!“, mit dem Thoas Iphigenie und Orest verabschiedet, bin ich so in Tränen geschwommen, dass ich gar nicht mehr die Bühne gesehen habe. Da habe ich mir gesagt, mit Goethe werde ich mich mein ganzes Leben beschäftigen.
Wird jüngeren Menschen heute Goethe durch die Schule verleidet?
Das kommt auf den Lehrer an. Wenn der Lehrer nur Goethe liest, weil er es als seine Pflicht betrachtet, ist das tödlich. Aber wer Goethe mit Begeisterung vermittelt, der kann dann auch Begeisterung auslösen.
Wären seine Bücher heute Bestseller?
Sein „Werther“war ein europäischer Bestseller, Napoleon hat ihn ja sogar mehrfach gelesen. In Erfurt hat er sich mit Goethe detailliert über seine Lektüreeindrücke unterhalten. „Werther“hat Goethe geradezu verfolgt, auch und vor allem auf der Italienischen Reise. Da hat er gedichtet: „Wäre Werther mein Bruder gewesen; ich hätt’ ihn erschlagen“. Auch der „Götz von Berlichingen“war ein europäisches Ereignis. Ob Goethe heute ein Bestsellerautor wäre, ist schwer zu sagen. Der literarische Markt wird ja von Agenten und Medien gesteuert, die es zu Goethes Zeiten noch nicht gab. Aber der Erfolg von Ulrich Plenzdorfs Buch „Die neuen Leiden des jungen W.“zeigt, dass „Werther“immer noch fester Bestandteil unserer kulturellen Erinnerung ist.
Goethe und die Frauen! Könnte man nach heutigen Maßstäben sagen, dass er die Frauen für sein Schreiben benutzt hat?
Das würde ich so nicht sagen. Es waren ja wirklich echte Herzensbeziehungen. Sie sind in sein Werk eingegangen, aber nicht eins zu eins. Zum Beispiel stehen für die Lotte im „Werther“vor allem zwei Frauen, das sind Charlotte Buff und Maximiliane von La Roche. Es sind meistens mehrere Frauen, die in seinem Werk zusammenfließen. Auch bei der „Marienbader Elegie“kann man nicht sagen, dass er die erst 17-jährige Ulrike von Levetzow „benutzt“hat. Er hatte sich in das junge Mädchen leidenschaftlich verliebt, und das hat seine ganze Lebensdisziplin durcheinander gebracht, die er dadurch wiederherstellen konnte, dass er das elementare Liebeserlebnis in dichterische Form bannte.
Goethe war ja nicht nur Dichter, sondern auch Wissenschaftler und Politiker – gibt es heute jemand Vergleichbaren?
Goethe konnte zu seiner Zeit noch den Überblick über die verschiedensten Wissenschaftsgebiete haben. So hatte er auch ein ganz ausgeprägtes, geradezu professionelles ökonomisches Wissen, das sich vor allem im „Faust II“ausgewirkt hat. Dieser Universalismus ist heute, in einem Zeitalter der immer stärkeren Spezialisierung, der Ausdifferenzierung der Wissenschaften gar nicht mehr möglich.
Könnten Sie sich Goethe heute als Politiker vorstellen?
Goethe hat im Herzogtum Weimar eine Form von erhaltender Politik vertreten, die zugleich auf ständige Erneuerung bedacht war. Also eine Haltung, die man als Reformkonservatismus bezeichnen kann. In den ersten zehn Jahren seiner Weimarer Tätigkeit als Minister war er sehr auf Reformen im Herzogtum bedacht. Seine Grundeinstellung war bis ins Alter, dass die Dinge alle fünfzig Jahre eine andere Gestalt haben, so dass eine Einrichtung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Fortschritt war, ein halbes Jahrhundert später ein rückständiges Übel sein kann. Ob er es noch einmal auf sich nehmen würde, wenn er noch leben würde, einen Teil seines Lebens der Politik zu opfern, glaube ich nicht. Schade, denn als Minister für Kultur täte er der Politik sehr gut.
Wäre Goethe denn heute ein gefragter Mann in Talk Shows – beispielsweise bei „Anne Will“?
Goethe war ein sehr gesprächsfreudiger Mensch. Er beherrschte noch perfekt die Regeln der Konversationskunst, wie sie in Frankreich ausgebildet worden sind. Aber in ihm steckte auch ein Teufel, wie von seiner Umgebung immer wieder bemerkt wurde. Weil er ein Widerspruchsgeist war, sich nicht festlegen lassen wollte. Ich denke da vor allem an seine Gespräche mit Madame de Staël, die er bei ihrem Weimar-besuch schier zur Verzweiflung gebracht hat, weil er ihr ständig widersprach. Also Anne Will hätte bei Goethe kein Bein auf die Erde gekriegt.
Goethe war ein hochanfälliger Mensch, aber er hat sich nie gehen lassen.
Anne Will hätte bei Goethe kein
Bein auf die Erde gekriegt.