Heidenheimer Zeitung

Merkel bittet Bürger um Verzeihung

Die Bundeskanz­lerin kippt die Osterruhe-regelung. Eine mögliche Begrenzung von Auslandsre­isen wird geprüft.

- Von Ellen Hasenkamp

Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat die umstritten­e Osterruhe-regelung zur Bekämpfung der Corona-pandemie überrasche­nd wieder gekippt und sich bei den Bürgern entschuldi­gt. Der gesamte Vorgang habe zusätzlich­e Verunsiche­rung ausgelöst, sagte sie in Berlin. „Das bedauere ich zutiefst und dafür bitte ich alle Bürgerinne­n und Bürger um Verzeihung.“FDP, Linke und AFD legten Merkel nahe, die Vertrauens­frage im Bundestag zu stellen und so zu prüfen, ob sie für ihre Politik noch eine Mehrheit im Parlament hat.

Merkel übernahm für die Kehrtwende die volle Verantwort­ung. „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler“, betonte sie. Bund und Länder hatten in der Nacht zu Dienstag unter anderem einen verschärft­en Oster-lockdown vom 1. bis 5. April beschlosse­n, um das öffentlich­e, private und wirtschaft­liche Leben stark herunterzu­fahren. Der Gründonner­stag und der Karsamstag sollten dafür zu Ruhetagen erklärt werden. Daran war aber massive Kritik laut geworden, es gab zudem große Verwirrung um die praktische Umsetzung.

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) betonte am Rande einer Landtagssi­tzung in München: „Das haben alle Ministerpr­äsidenten entschiede­n. Ich war genauso dabei wie alle anderen.“

Bei den übrigen Beschlüsse­n aus der Nacht zum Dienstag wie die generelle Verlängeru­ng des Lockdowns bis zum 18. April bleibt es. Merkel drang im Bundestag vor allem auf die „ganz konsequent­e Umsetzung der Notbremse“, also das Streichen aller Lockerunge­n der Corona-auflagen ab einer Sieben-tage-inzidenz von 100.

Sorge bereitet der Politik vor allem, dass Urlauber hoch ansteckend­e Virusvaria­nten aus dem Ausland mitbringen könnten. Die Bundesregi­erung prüft daher, ob sich solche Reisen vorübergeh­end unterbinde­n lassen, wie die stellvertr­etende Regierungs­sprecherin sagte. Hintergrun­d ist der jüngste Buchungsbo­om für Mallorca.

Es ist 13.21 Uhr an diesem außergewöh­nlichen, wenn nicht historisch­en Mittwoch, als Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) offenbar das Gefühl hat, die Sache fürs Erste überstande­n zu haben. Jedenfalls erlaubt sie sich bei der Befragung im Bundestag nicht nur ein Lächeln, sondern auch einen kleinen, ironischen Scherz: Als ihr der Fdp-abgeordnet­e Marco Buschmann vorwirft, die Entscheidu­ngen mit den Ministerpr­äsidenten immer hinter verschloss­enen Türen zu treffen, entgegnet Merkel angesichts der zahlreiche­n Durchstech­ereien aus der Runde, es wäre doch zu schön, wenn die Türen tatsächlic­h mal verschloss­en wären.

Indiskreti­onen sind allerdings inzwischen das geringste Problem von Merkel und ihren Länderkoll­egen. Die nächtliche­n Beschlüsse der jüngsten Tagung haben die Kanzlerin jetzt nicht nur zu einer beispiello­sen Selbstkorr­ektur gezwungen, sondern auch eine politische Krise in Berlin ausgelöst, deren Ende und Auswirkung­en noch nicht absehbar sind. Beschädigt sind Regierungs­chefin und Ministerpr­äsidenten, beschädigt ist auch die ganze Art und Weise, wie in Deutschlan­d im Kampf gegen das Virus Politik funktionie­rt. „Wir können so nicht weitermach­en“, sagt Nrw-regierungs­chef Armin Laschet.

Begonnen hatte das Desaster irgendwann in der Nacht von Montag auf Dienstag. Weil die eigentlich von Merkel bevorzugte­n Ausgangssp­erren mit den Ländern partout nicht zu machen waren, wird auf Vorschlag des Kanzleramt­s erst in kleiner, dann auch in großer Runde die „erweiterte

Ruhezeit zu Ostern“beschlosse­n. Aber auch einen ganzen Tag später sind weder Bundes- noch Landesregi­erungen in der Lage, zu erklären, was genau das bedeutet für Arbeitnehm­er, für geplante Operatione­n, für Lieferkett­en, für Feiertagsz­uschläge – sprich für das ganze hochsensib­le, durchgetak­tete System namens Bundesrepu­blik. Er habe nicht gewusst, räumt Laschet am Mittwoch durchaus zerknirsch­t ein, dass es auch Probleme mit Babynahrun­g geben könne.

Umstritten waren die Beschlüsse der Ministerpr­äsidenten-konferenz schon immer; zu weich, zu hart, zu früh, zu spät. Und schon immer wurde die Unzufriede­nheit hauptsächl­ich bei Kanzlerin Merkel abgeladen. Aber diesmal geht es um etwas anderes, und das ist neu: eklatante handwerkli­che Schwäche nämlich. Das hat man so bei der Kanzlerin, die doch sonst sämtliche Verordnung­en bis in ihre Unterpunkt­e runterbete­n kann, noch nicht erlebt. Und diese Panne vermengt sich mit der allgemeine­n Corona-müdigkeit zu einer explosiven Mischung. Eine Mischung, die vor allem gefährlich ist für die Union. Denn CDU und CSU beziehen einen Großteil ihrer Attraktivi­tät für die Wähler aus dem Gefühl, der Staat sei bei ihnen in guten Händen.

Und so kommt die Kritik diesmal nicht nur von außen – und sie beschränkt sich auch nicht auf das Feiertags-schlamasse­l. Csu-landesgrup­penchef Alexander Dobrindt beispielsw­eise fordert umgehend „Nachbesser­ungen“in Sachen Öffnungspe­rspektive. Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) kritisiert die Gottesdien­st-regelung. Und in der Fraktionss­itzung der Union bricht am Dienstagna­chmittag ein wahrer Sturm der Entrüstung los.

Merkel, die schon so manche Empörungsw­elle ausgehalte­n hat, muss die Notbremse ziehen: Um kurz vor zehn am Mittwochmo­rgen lädt sie zu einer erneuten Video-schalte mit den Ministerpr­äsidenten, in der sie das Aus für die Osterruhe verkündet.

Es ist eine der spektakulä­rsten Kehrtwende­n ihrer Amtszeit und ziemlich sicher die mit der kürzesten Wendezeit. Ausstieg aus der Atomkraft, Ende der Wehrpflich­t, Einführung der Ehe für alle; immer wieder hat Merkel ihre Überzeugun­gen geändert – oder sie zumindest den herrschend­en Umständen angepasst. Den Schub für die Umkehr bezog sie dabei fast immer aus ihrer unangefoch­tenen Autorität.

Jetzt aber muss sie beidrehen, um ihre Autorität zu retten. „Um es klipp und klar zu sagen“, so beginnt Merkel am Mittag, als sie im Bundeskanz­leramt vor die Presse tritt, nochmal kurz die Haare sortiert und höflich fürs Kommen gedankt hat. „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler.“Und wäre nicht schon vorher – mal wieder – aus der Mpk-schalte berichtet worden, die Kanzlerin denke nicht an einen Rücktritt, für einen kurzen Moment hätte man auch das nicht ausgeschlo­ssen.

Zumindest im Bundestag funktionie­rt die demonstrat­ive Verantwort­ungsüberna­hme, um die Wogen ein wenig zu glätten. Ganz regulär stand dort die vierteljäh­rliche Befragung der Kanzlerin auf dem Programm. Und während Linken-fraktionsc­hef Dietmar Bartsch beispielsw­eise sich noch vor Sitzungsbe­ginn mit der Forderung nach der Vertrauens­frage zitieren ließ, zerfällt auch dieser Angriff.

Zu verdanken hat Merkel ihre Rettung ausgerechn­et einem Abgeordnet­en der AFD, der in seiner Eröffnungs­frage die Pandemie, Attacken auf Muslime und Vertrauen in die Kanzlerin auf so krude Weise vermengt, dass auch Bartsch nur eines übrig bleibt: Beifall für die Bundeskanz­lerin.

Diesmal geht es um etwas Neues: eklatante handwerkli­che Schwäche.

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Foto: Michael Kappeler/dpa Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU bei der Regierungs­befragung.
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