Verzweifelter Kampf ums Überleben
Covid-19 verdrängt auch in diesem Land alle anderen Krankheiten. Zum Beispiel den Krebs, an dem dort jährlich Zehntausende sterben, weil er zu spät erkannt wird, die Versorgung schlecht ist und Medikamente teuer sind. Alina Golovko stemmt sich gegen den T
Es begann mit einem kleinen Leberfleck zwischen Alina Golovkos Schulterblättern. Er schwoll an, begann zu jucken. „Ich bin ins Regionale Krebszentrum gefahren, dort hat mir ein Arzt den Fleck entfernt“, erzählt sie. Es bestand der Verdacht auf Krebs. Aber nach einigen Tagen rief der Arzt sie an und sagte, alles sei gut. Ein Moment großer Erleichterung im März 2017.
Alina Golovko ist jetzt 33, die schmaläugigen, graugrünen Blicke unter ihren rotblonden Haarfransen sind so lebhaft wie ihr nordost-ukrainisches Russisch. Die junge Frau ist tapfer. „Ja, das ist eine Nebenwirkung“, erklärt sie die Blässe ihres Gesichts. „Aber dass die Haut heller wird, soll medizinisch ein gutes Zeichen sein.“
Im Frühjahr 2020, drei Jahre nach der Entwarnung, entdeckte sie unter der Achsel eine erbsengroße Verdickung, im Juni ging sie erneut ins Krebszentrum, das Geschwulst wurde entfernt. Diesmal lautete die Diagnose: Hautkrebs im vierten Stadium.
Man sieht es Alina Golovko nicht an, aber sie kämpft um ihr Leben. Ihre Diagnose ist eine von knapp 140 000 ukrainischen Krebs-diagnosen jährlich, laut dem Tv-sender TSN enden 80 000 tödlich. Zum Vergleich: An Covid-19, das auch in Osteuropa alle anderen Krankheiten in den Hintergrund drängt, sind bisher knapp 29 000 Ukrainer gestorben.
Hautkrebszellen können mindestens so aggressiv wie Coronaviren sein: Im vergangenen Juni wucherten die Metastasen schon in Alinas Lunge. Sie kämpft und hofft, aber auf staatliche Hilfe zählt sie nicht. Alina muss wie ungezählte postsowjetische Krebspatienten gegen den Tod anbetteln. „Mama“, sagte ihr zehnjähriger Sohn Roman am Internationalen Frauentag, „ich schenke Dir mein Taschengeld, damit du Dir Medizin kaufen kannst.“
In Russland erfährt laut der Ärzte-gewerkschafterin Anastasia Wassiljewa die Hälfte der Krebskranken erst im vierten und letzten Stadium von ihrer Krankheit. Auch in der Ukraine wird Krebs häufig viel zu spät diagnostiziert. Viele Frauen mieden Vorsorgeuntersuchungen aus Angst, von einer Krankheit zu erfahren, deren Heilung sie nicht bezahlen können, erzählt Nina Resnitschenko, Leiterin der Initiative „Athena. Frauen gegen Krebs“.
Im Juni 2020 entdeckte Alina Golovko auf ihrer Patientenkarte einen Eintrag, der angeblich von 2017 stammte: Man habe ihr, stand da, nach der Beseitigung ihres Leberflecks telefonisch mitgeteilt, dass sie Hautkrebs habe, sie habe jedoch auf jede Behandlung verzichtet. „So ein Gespräch hat es nie gegeben“, sagt sie. „Aber wie beweise ich, dass ich diese Worte am Telefon nicht gehört habe?“Im Krebszentrum Sumy will man ihr bis heute weder die Patientenkarte noch eine Kopie herausgeben.
Krebs. „In meinem Haus wohnt ein neues Wort“, schrieb Alina Golovko später auf Facebook. „Ein Wort, das man nicht laut ausspricht.“Ein paar Wochen presste der Krebs sie in schlimme Depressionen. Es war ihre Schwester Natalja, die im Internet eine neue Immuntherapie fand und ihr Mut zusprach.
Im Februar dann wurde in der Ukraine eine neue nationale Strategie zur Krebsbekämpfung veröffentlicht. Behandlungsprotokolle sollen vereinheitlicht, die Ausgaben für die Patienten erhöht werden. Im Rahmen eines 2020 gestarteten Programms medizinischer Garantien will man 2021 umgerechnet 165 Millionen Euro in Früherkennung und Heilung stecken. Resnitschenkos Mitstreiterin Viktoria Romanjuk bestätigt, die Zahl der Medikamente, die der Staat kostenlos zur Verfügung stellt, sei gestiegen. Auch weil es nach der Maidan-revolution gelang, die Korruption beim Arzneimitteleinkauf zum Großteil auszumerzen – auf Druck mehrerer Patienteninitiativen tätigt jetzt eine transparent arbeitende zentrale Agentur die Käufe im Ausland. „Aber unser Hauptproblem“, sagt Viktoria Romanjuk, „ist noch immer die mangelhafte Finanzierung.“Die „Athena“-initiative fordert, dass mindestens fünf Prozent des Staatshaushaltes für Gesundheit ausgegeben werden. Bisher vergeblich.
Noch klaffen große schwarze Löcher in der medizinischen Versorgung. Alina Golovko ist in eines davon geraten. Man hat ihr das amerikanische Immunpräparat Keytruda verschrieben, sie erzählt froh, es helfe. Aber in der Ukraine kostet eine Dosis Keytruda 4200 Dollar, und der Staat schießt keinen Groschen zu. Alina kauft inzwischen aus Moskau Keytruda irischer Produktion für umgerechnet 3000 Dollar. Sie benötigt mindestens 18 Dosen.
Viele bitten aus Scham nicht um Hilfe
Vor ihrer Krankheit verdiente die gelernte Mathematiklehrerin als Office-managerin umgerechnet 2600 Dollar im Jahr. Jetzt besteht ihr Monatseinkommen aus 80 Dollar Krankenrente und 110 Dollar Alimenten für ihren Sohn. Ihre Ersparnisse für den künftigen Kauf einer Wohnung reichten für keine drei Keytruda-dosen. Sie sagt, es gebe in der Ukraine viele Krebsstiftungen. „Aber sie konzentrieren sich fast alle auf die Hilfe für kranke Kinder.“Und so begann sie, auf Facebook und Instagram über sich und ihre Krankheit zu schreiben, platzierte dort Kontonummern. Es gab aufmunternde Kommentare, erste Überweisungen, Fremde sprachen sie auf der Straße an. „Ich merkte, dass ich den Leuten nicht gleichgültig bin.“
Alina Golovko kämpft, neue Menschen sind in ihrem Leben aufgetaucht, auf Facebook fragen andere sie jetzt um Rat, gerade organisierte sie eine Kleidersammlung für ein Kinderheim. Und sie hat das Geld für elf Keytruda-dosen zusammenbekommen. Alle drei Wochen fährt sie mit dem Bus fünf Stunden nach Kiew, bekommt dort eine neue Infusion.
Die krebskranke Dichterin Jelena Kasjan sagt, alles laufe auf eine simple Wahl heraus: „Beschäftige Dich mit dem Leben oder beschäftige Dich mit dem Tod.“Nina Resnitschenko klagt, viele krebskranke Frauen verzichteten lieber auf eine Behandlung, als ihre Scham zu überwinden und um Hilfe zu bitten.
Aber mehr als 9000 Frauen haben sich in der Facebook-gruppe der „Athena“-initiative gegen den Krebs zusammengetan. Auch Alina Golovko bloggt Hoffnung auf Gesundung: „Hört nicht auf zu kämpfen! Ihr geht durch Schrecken, Angst und Schmerz und bekommt dafür ein unglaubliches Geschenk!“Sie wirkt sehr lebendig, so lebendig, dass sie sich schon wieder Sorgen macht. „Die Leute sehen, ich habe alle Haare auf dem Kopf, sehe gut aus und lächle. Und sie glauben nicht, dass ich Hilfe brauche.“
Die Spenden im Internet tropfen spärlicher, es kommen kaum noch 200 Dollar pro Monat zusammen, Alina Golovko bittet jetzt Regionalparlamentarier um Spenden. „Die einen sagen, sie unterstützten krebskranke Kinder, die anderen, sie hätten genug andere Bittsteller, aber ich bin sehr aufdringlich“, sie lächelt wieder. Sicher sei es schwer zu betteln, aber sie tue es ja für ihren Sohn. „Ich will erleben, wie er aufwächst, ich will ihn auf eigene Beine stellen.“Alina Golovko hat ihren Kampf gegen einen Feind, der keine Gnade kennt, noch nicht gewonnen.
Wer für die Therapie von Alina Golovko spenden möchte, kann das unter dieser Bankverbindung tun: Sebastian Bach, IBAN: DE27 5001 0517 0306 2611 07
BIC: INGDDEFFXXX, Stichwort: Alina oder paypal: alina_golovko2@mail.ru
Ich will erleben, wie Roman aufwächst, ich will ihn auf eigene
Beine stellen.
Alina Golovko
Hautkrebspatientin