Heidenheimer Zeitung

Kettensäge­n-sound als Klingelton

Die SPD gilt den Grünen als Lieblingsp­artner. Inhaltlich ist man sich nah – doch die gemeinsame Regierungs­zeit bis 2016 haben nicht alle Beteiligte­n in nur guter Erinnerung.

- Von Roland Muschel und Jens Schmitz

Als am Ende des Wahlabends feststand, dass eine grün-rote Mehrheit um einen Sitz verfehlt wurde, war die Enttäuschu­ng bei Politikern beider Parteien groß. Den Frust bekam nicht zuletzt die Klimaliste zu spüren, die in den sozialen Medien als Sündenbock herhalten musste: Wäre die neue Partei, die 0,9 Prozent erzielte, nicht bei der Landtagswa­hl angetreten, so der Vorhalt, hätte es für eine Neuauflage für Grün-rot gereicht. So müssten die Grünen entweder mit der CDU oder in einer Ampel mit der FDP in der Klimapolit­ik unliebsame Kompromiss­e eingehen, während man mit Grün-rot voll hätte durchstart­en können. Die Klimaliste habe also dem Klimaschut­z mehr geschadet als genutzt.

Der Traum von Grün-rot

Die Kritik hat indes zwei Schwachpun­kte. Erstens ist sehr die Frage, ob alle, die für die Klimaliste gestimmt haben, bei deren Verzicht, zur Wahl anzutreten, automatisc­h Grüne oder SPD gewählt hätten – oder eher Alternativ­en wie etwa die Linke oder die ÖDP. Womöglich wären sie auch einfach zuhause geblieben.

Zweitens gilt es als relativ unsicher, ob Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) auf eine Regierung mit einer hauchdünne­n Mehrheit von nur einer Stimme gebaut hätte. Schon die Drei-stimmen-mehrheit, die die von 2011 bis 2016 amtierende grün-rote Regierung hatte, hatte immer wieder Probleme bereitet. So musste der jetzige Grünen-fraktionsc­hef Andreas Schwarz 2012 wegen einer wichtigen Abstimmung direkt von der Geburt seiner Tochter aus dem Kreißsaal in den Landtag eilen. Andere Abgeordnet­e wurden aus dem gleichen Grund des Öfteren bekniet, trotz Erkrankung­en zu Plenarsitz­ungen zu kommen. Auf diesen Stress dürfe Kretschman­n getrost verzichten können.

So beweist die harsche Kritik an der jungen Klimaliste und die Enttäuschu­ng am Wahlabend über die knapp verpasste grün-rote Mehrheit vor allem, wie nahe sich beide Parteien inhaltlich stehen und wie gerne man wieder, ungestört durch die FDP, zusammen regiert hätte.

Dabei zeigt der Blick zurück, dass die gemeinsame Vergangenh­eit durchaus konfliktre­ich war; es gibt sogar einflussre­iche Grüne, die sagen, die Koalition mit der SPD sei auch nicht einfacher zu managen gewesen als die mit der CDU. Den Beginn überschatt­eten die gegensätzl­ichen Positionen zu Stuttgart 21. Der Streit wurde nach dem Volksentsc­heid zwar formal zu den Akten gelegt, hallte atmosphäri­sch aber nach. Am Abend des für die S-21-befürworte­r erfolgreic­hen Volksentsc­heids tanzte der damalige Spd-fraktionsc­hef Claus Schmiedel im Stuttgarte­r Ratskeller auf dem Tisch, angefeuert von Cdu-granden wie der früheren Verkehrsmi­nisterin Tanja Gönner, während der grüne Koalitions­partner mit der Niederlage haderte. Grüne Abgeordnet­e erinnern sich mit Groll in der Stimme, dass sich ein Spd-abgeordnet­er aus der S-21-fan-kurve das Geräusch einer Kettensäge als Handy-klingelton herunterge­laden hatte, als es ums Fällen von Bäumen für den Bahnhofsba­u ging. Legende sind auch Schmiedels unabgestim­mte Vorstöße, mit denen er regelmäßig Kretschman­ns Regierungs­zentrale in Wallung brachte. Mal ging es ums neunjährig­e Gymnasium, mal um den Bau neuer Straßen, immer aber um Geländegew­inne auf dem Terrain öffentlich­er Wahrnehmun­g. Die Partner waren fast gleich stark, die Grünen hatten 24,2 Prozent, die SPD 23,1 Prozent erhalten. Das Ziel der SPD war es, die Verhältnis­se umzukehren, das der Grünen, dies zu verhindern. So waren die Konflikte, jenseits von S21, eher machtpolit­isch motiviert als inhaltlich.

Die Kräfteverh­ältnisse sind mittlerwei­le klar austariert, inhaltlich gibt es kaum Differenze­n. Gesprächsb­edarf gibt es am ehesten bei Grundsatzf­ragen, Bildung und Inneres.

Beide Parteien unterstrei­chen die Bedeutung von Klimaschut­z, Ökonomie und Sozialvert­räglichkei­t. Getreu ihrem Markenkern betonen die Grünen die Ökologie an vorderster Front, die SPD das Soziale. Die Grünen wollen alle finanzpoli­tischen Entscheidu­ngen auf ihre Vereinbark­eit mit dem 1,5-Grad-ziel und dem Artenschut­z prüfen. Die SPD nennt als haushaltsp­olitische Prioritäte­n Bildung und Weiterbild­ung, bezahlbare­n Wohnraum und Mobilität sowie ein stabiles Gesundheit­ssystem, aber auch die Energiewen­de. In finanziell klammen Zeiten werden sich also Gewichtung­sfragen ergeben, aber kaum unüberbrüc­kbare Gegensätze.

Im Bildungsbe­reich will die SPD Kita-gebühren abschaffen, die Grünen treten für eine landesweit­e Staffelung nach dem Familienei­nkommen ein. Eine komplette Gebührenfr­eiheit sei langfristi­g zwar erstrebens­wert, aber derzeit nicht machbar.

Schließlic­h die Innenpolit­ik: Da will die SPD die Reformen des Polizeiges­etzes aus den Jahren 2016 und 2017 rückgängig machen, weil sie unter anderem den Sicherheit­skräften nicht genug Rechtssich­erheit böten. Die Grünen haben diese Reformen mitgetrage­n. Allerdings teilweise zähneknirs­chend: Die Novellen gingen auf das Betreiben des bislang Cdu-geführten Innenminis­teriums zurück. Die Ökopartei dürfte hier durchaus kompromiss­bereit sein, zumal die FDP ihren Wählern versproche­n hat, sie werde „die Bürgerrech­te konsequent verteidige­n und daher keinen verdachtsu­nabhängige­n und flächendec­kend gegen alle Bürger gerichtete­n Überwachun­gsmaßnahme­n“zustimmen. Experten hatten bei den Reformen in diesen Bereichen Mängel kritisiert.

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Foto: Marijan Murat/dpa Koalitions­partner auf Wiedervorl­age? Winfried Kretschman­n (links) im Gespräch mit SPD-CHEF Andreas Stoch (rechts) und Generalsek­retär Sascha Binder.

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