„Ich hatte großartige Mentoren“
Klassik Der Pianist und Dirigent Christoph Eschenbach sehnt sich wie derzeit alle Musiker nach Live-auftritten.
Der 81-jährige Pianist und Dirigent Christoph Eschenbach ist einer der profiliertesten Musiker seiner Generation. In seinem Lebenslauf spiegelt sich auch die Geschichte der Bundesrepublik wider. Er war zum Beispiel 1985 dabei, als Altkanzler Helmut Schmidt neben Justus Frantz und Gerhard Oppitz in der Aufnahme von Bachs Konzert für vier Klaviere und Streicher als Pianist reüssierte. Auch wenn Eschenbach wie alle Künstler unter der Corona-situation leidet: Dieser Universalist ist mit sich und der Welt im Reinen.
Herr Eschenbach, wie gehen Sie mit dem Älterwerden um?
Christoph Eschenbach
: Wenn man einen Riegel vor die Phobie des Altwerdens schiebt, dann ist man da schon einen ganzen Schritt weiter. Ich meine, man muss immer wieder neuen Mut zum Leben fassen, und kleine Gebrechen kann man heilen. Ich bin nicht traurig, dass ich nun die 80 überschritten habe: Diese Altersstufe erschließt mir neue Pforten, neue Ebenen und Aussichten.
Was hat Ihnen geholfen, in der Corona-zeit das Beste aus der schwierigen Lage zu machen?
Zuerst: Hoffentlich ist eine Änderung der Lage bald absehbar. Denn die Situation von jungen Künstlern finde ich ganz furchtbar. Einige Konzertagenturen mussten sogar Insolvenz anmelden. Ich sehe das an meinem Orchester in Berlin und auch an Orchestern in Frankfurt: Die freuen sich wahnsinnig, wenn sie überhaupt einmal Musik machen können, auch wenn diese Konzerte nicht vor Publikum stattfinden, aber doch wenigstens im Livestream zu erleben sind. So versuchen wir uns über diese musikalische Anämie, die wir momentan erleiden, einigermaßen hinwegzuretten. Die jungen Leute möchten ja gerne auf die Bühne gehen und etwa Bruckner oder Mahler machen, und ich sehe das auch so. Ich hungere danach. Das alles ist für uns Musiker sehr negativ.
Wie stehen Sie zu Dingen wie Streaming oder Konzerten via Youtube oder Facebook?
Ich finde, es ist eine Rettung für uns, dass wir auf diesem Wege Publikum ansprechen können und sogar die Möglichkeit haben, eine andere Klientel zu erreichen als das – nennen wir es einmal – Routine-publikum des Abonnement-betriebs. Ich sehe es absolut positiv, dass es diese Medien gibt.
Sie überblicken den Klassikmarkt seit vielen Jahrzehnten. Was wurde besser, was schlechter?
Es werden auch heute noch Gesamtaufnahmen eingespielt, etwa von Klavier- und Kammermusik, das betrachte ich als sehr gute Entwicklung. Was sich insgesamt verändert hat, ist eine gute, aber sehr schwer zu beantwortende Frage. Da ist eine Sache, die ich persönlich sehr schade finde: Es gibt praktisch keine Läden mehr, die diese Tonträger vor Ort führen, sieht man mal von großen Kaufhäusern wie Dussmann in Berlin oder Beck in München ab. Ich fand es immer schön, in Hamburg in den Laden von Steinway zu gehen, mir die Platten anzusehen und, wenn ich wollte, auch vorspielen zu lassen. Das war eine schöne kleine Welt, vor allem auch für Studenten, die es so nicht mehr gibt.
Sind Sie selber denn auch ein Cd-hörer? Ihr vor nunmehr 25 Jahren verstorbener Kollege Sergiu Celibidache stand der „Konserve“ja sehr kritisch gegenüber.
Ja, natürlich höre ich gerne CDS, vor allem die mit Celibidache, von dem ich selbst noch das Glück hatte, ihn live zu erleben. Es wäre doch unheimlich schade, wenn man heutzutage nicht mehr die Möglichkeit hätte, seine Bruckner-interpretationen auf CD zu hören.
Wie finden Sie sozusagen Ihren eigenen „Sound“und wie feilen Sie am Orchesterklang?
Den eigenen Klang hat man als Dirigent ja schon lange, sonst würde man nicht auf der Bühne stehen vor Publikum und diesem seine Ansicht präsentieren. Diese klanglichen Grundansichten sind über viele Jahre gebildet und formen sich immer weiter. Natürlich ist eine Schallplatte oder CD eindrucksvoll und vermittelt auf eine gültige Weise die jeweilige Welt eines Künstlers wie zum Beispiel bei Celibidache. Aber ein gefestigter Musiker lässt sich davon nicht beeinflussen oder in seinem Stil prägen. Kein Musiker sollte die Lesart eines anderen kopieren.
Die Kammermusiken von Paul Hindemith haben Sie gerade erst für das Label Ondine eingespielt. Was reizt Sie an diesem Komponisten – und dieser „Bürgerschreck-musik“?
Seit Anfang meines Lebens liegt mir viel an Hindemith. Mein Patenonkel
war der Komponist Günter Bialas. Er hat mir die neue Musik Ende der 40er Jahre nahegebracht und mir auch ein Heft von Hindemiths Kinderoper „Wir bauen eine Stadt“geschenkt. Die Deutsche Grammophon wollte diese Oper veröffentlichen und fragte mich, ob ich das dirigieren könne. Sie suchten Kinder, die schon mit Musik zu tun gehabt hatten – und das war dann mein informelles Dirigierdebüt. Ich habe Hindemith also sehr früh mögen und später lieben gelernt.
Lassen Sie uns über den Mentor Christoph Eschenbach sprechen. Wie sind Sie in diese Rolle hineingewachsen?
Erst einmal muss ich sagen, dass ich selbst zwei großartige Mentoren hatte, die sich zwar beide auf derselben Ebene bewegten, aber ganz verschiedene Arten praktizieren, an die Musik heranzugehen: George Szell und Herbert von Karajan. Die haben beide viel mit mir und an mir gearbeitet. Ich habe dabei so Vielfältiges über das Wesen der Musik gelernt und das von verschiedenen Seiten. Ich finde, wenn man älter wird, sollte man seine Erfahrungen – die ja nie abgeschlossen sind und sich immer weiter akkumulieren – an Jüngere weitergeben, das macht auch wahnsinnig viel Spaß.
Zu den jungen Künstlern, die Sie unter Ihre Fittiche genommen haben, zählen auch der Organist Cameron Carpenter und der Pianist Lang Lang.
Cameron ist natürlich schon ein bisschen exzentrisch, aber was der Mann kann, ist unglaublich.
Ich habe ihn in Philadelphia kennengelernt. Da hörte ich von einem Nebenraum aus plötzlich die fünfte Sinfonie von Mahler. Das war Carpenter auf der Orgel – und das soll ihm erst einmal jemand nachmachen! Lang Lang habe ich zum ersten Mal getroffen, als er 17 Jahre alt war. Er hatte damals ganz erstaunlich ein Intermezzo von Brahms gespielt, richtig klingend, wie es eben sein sollte. Ein paar Tage später brauchten wir für einen erkrankten Kollegen kurzfristig Ersatz. Ich fragte Lang Lang – er kam, sah und siegte (lacht). Ich weiß noch, dass er 1999 auch Bachs „Goldbergvariationen“ganz hervorragend auswendig spielte. Ich freue mich, dass ich Künstlern wie Cameron Carpenter oder Lang Lang auf ihrem Weg helfen konnte und lasse mich umgekehrt von ihnen inspirieren, das ist doch toll.
Sie haben früh Ihre Eltern verloren. Suchen Sie in der Musik manchmal nach der verlorenen Zeit?
Aus der Musik entstehen viele Assoziationen zur eigenen Kindheit. Das ist sehr wichtig, gerade auch in meinem Alter. Dabei geht es aber nicht um die gute alte Zeit, denn jede einzelne Minute des Lebens ist wichtig. Gerade in der jetzigen Corona-zeit wacht das Bewusstsein dafür eklatant in mir auf. Es wäre schade, wenn man das Leben so schlecht behandeln würde. Wie wird man fertig mit dem Älterwerden? Indem man sich klar wird, wie wichtig jede Minute des Jungseins war und wie wichtig jede Minute des mittleren Alters – und wie wertvoll jede Sekunde der Gegenwart ist.