Heidenheimer Zeitung

„Tendenz zum Systemisch­en“

- Ellen Hasenkamp

durch die jüngsten Politiker-affären hat die Demokratie als Ganzes, fürchtet der Politikwis­senschaftl­er Gero Neugebauer.

Haben wir es mit individuel­lem Fehlverhal­ten oder mit einem Systemprob­lem zu tun?

Gero Neugebauer:

Ich sehe eine Tendenz zum Systemisch­en, insbesonde­re bei jahrzehnte­langen Regierungs­parteien wie CDU und CSU. Es gibt dort ja auch eine gewisse Affärentra­dition. Die Versuche spezifisch­er Branchen, ihre Interessen in den politische­n Prozess einzubring­en, sind bei der Union intensiver als bei anderen.

Was ist, wenn am Schluss aber nichts Rechtswidr­iges übrig bleibt?

Selbst wenn etwas legal ist, muss es nicht legitim sein. Abgeordnet­e sind Repräsenta­nten des gesamten politische­n Systems. Wer das Eigenwohl vor das Gemeinwohl stellt, hat nicht die moralische Qualität, Abgeordnet­er zu sein.

Für Abgeordnet­e gelten also eigene Maßstäbe?

Sie genießen im demokratis­chen System eine herausgeho­bene Stellung und entspreche­nde Privilegie­n, zum Beispiel Zugang zu Medien und Entscheidu­ngsträgern. Das haben die allermeist­en Bürger nicht, insofern erwächst aus dieser Position eine besondere Verantwort­ung. In anderen Ländern gelten übrigens viel strengere Regeln: In Großbritan­nien ist Abgeordnet­en jede Nebentätig­keit untersagt, in Schweden müssen die Steuererkl­ärungen offengeleg­t werden.

Gibt es eine Partei, die profitiert?

Das glaube ich nicht. Die Empörung wird sich nachteilig für die Union auswirken. Etliche von ihr nachhaltig enttäuscht­e Wähler werden zu Hause bleiben, manche vielleicht zu den bislang skandalfre­ien Grünen, aber nicht zur AFD gehen.

Hat den größten Schaden das demokratis­che System?

Ja, und ich befürchte, dass sich dieser Schaden vor allem bei der nächsten Bundestags­wahl zeigen wird: Schwindend­en Zuspruch für das repräsenta­tive System insgesamt.

In der Pandemie wiegt das doppelt schwer, denn die Befolgung der Maßnahmen beruht auf Vertrauen.

Richtig, die Bürger müssen das Gefühl haben, sich auf die Politik verlassen zu können. Wenn das nicht der Fall ist, wenden sie sich ganz ab oder sehnen sich schlimmste­nfalls nach neuen, autoritäre­n Personen. Dieser Gesamtscha­den wird nicht ausreichen­d reflektier­t.

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Foto: Freie Universitä­t Berlin/dpa Parteienfo­rscher Gero Neugebauer.

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