Roman Joachim B. Schmidt: Kalmann (Folge 50)
Ich dachte an so einiges. Ich dachte an die Tanzveranstaltung in Kópasker, als ich die Betrunkenen, eine ganze Autoladung voll, zurück nach Raufarhöfn fuhr. Während den ersten Kilometern grölten und lärmten sie, dann aber wurden sie plötzlich ruhig und schliefen ein, und es wurde plötzlich still im Auto und das Fahren sehr angenehm. Wenigstens einen Moment fühlte ich mich, umgeben von schnarchenden, stinkenden Männern, als wäre ich ein normaler junger Mann wie alle. Dass ich dem Auto eine Schramme verpasste, als ich die Gesellen vor ihren Häusern absetzte, weil ich einen Hydranten übersah, bemerkte niemand, und darum gab es keinen Grund zur Sorge.
Ich hätte gerne ein Auto. Es wäre ein Toyota Land Cruiser.
Damit könnte ich querfeldein über die Melrakkaslétta brettern, um Schneehühner und Polarfüchse zu jagen. Und im
Winter könnte ich ohne Probleme über die verschneiten Straßen nach Húsavík fahren, selbst wenn sie noch nicht gepflügt wären, um Großvater zu besuchen. Dann wäre ich nicht mehr auf Magga angewiesen und müsste mich nicht mehr hinter dem Tankstellengebäude verstecken. Das wäre prima.
Großvater
Ich putzte den Teller leer und verließ den Tankstellenimbiss, ohne mich von Salvör, der sowieso wieder in der Küche verschwunden war, zu verabschieden. Die zwei Touristen schauten mir hinterher, lächelten sogar, aber ich ignorierte sie.
Draußen schien die Sonne. Es war eigentlich ein ganz hübscher Tag. Frühlingshaft. Hier in Húsavík lag der Schnee nur noch im Schatten der Häuser und war schwer und schmutzig. Ich wollte hoch zum Pflegeheim, bemerkte aber Maggas Auto vor dem Laden und machte darum einen Umweg.
Man kannte mich im Pflegeheim, ich musste mich nicht anmelden oder so, darum latschte ich einfach ins Gebäude, wie ich es immer machte. Ich wusste auch, wo sich Großvaters Zimmer befand. Aber da war er nicht, auch nicht auf dem Klo.
„Ah, Kalmann, grüß dich, junger Mann!“, rief mir Kolbeinn zu, als ich wieder aus dem Zimmer trat. „Besuchst du deinen Großvater? Wie nett von dir!“Kolbeinn schlurfte mir mit ausgestreckter Hand entgegen. „Ein Glück, dass du mich noch erwischst, ich muss eben noch ins Baugeschäft. Ich habe deinen Großvater im Kapellenkorridor gesehen.“
Ich nickte und schüttelte seine Hand. Kolbeinn war nicht mehr ganz klar da oben, glaubte wohl noch immer, zuständig für etwas zu sein. Dabei wohnte er im Zimmer neben meinem Großvater. Ich wusste aber nicht, wofür er früher einmal zuständig gewesen war. Möglicherweise war er Schreiner gewesen. Manchmal begrüßte er die Pflegeheimbewohner beim Mittagessen und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden aller, kontrollierte dabei die Stühle, rüttelte an ihnen herum und versprach, diesen oder jenen Stuhl bei Gelegenheit zu reparieren – was er aber nie machte.
„Prima“, sagte ich, ließ Kolbeinn stehen und ging in den Kapellenkorridor. Alle Korridore und Gebäudeteile hatten hier Namen. Es gab zum Beispiel den Hauptkorridor, der vom Haupteingang wegführte, den Hafenkorridor und den Garðarsaal. Mein Großvater wohnte im Náttfarikorridor. Aber er saß wirklich auf einem Stuhl im Kapellenkorridor, wie es Kolbeinn behauptet hatte – vielleicht war er doch noch nicht ganz ballaballa. Großvater war hübsch angezogen, weißes Hemd, schwarze Hosen, rote, flauschige Hausschuhe, saß einfach nur da und schaute aus dem Fenster. Sein Kinn hatte er nach oben gereckt, er verzog seinen Mund, als stecke ihm etwas im Hals. Er war noch grauer geworden, seit ich ihn vor genau einer Woche zum letzten Mal besucht hatte.
Großvater schaute mich verwirrt an, als ich einen Stuhl heranzog und mich zu ihm setzte.
„Hallo, Großvater“, sagte ich. „Wie geht es dir?“Keine Antwort. „Hast du Durst?“Großvater brummte. „Willst du vielleicht eine Cola?“„Nein“, sagte er.
Ich stand auf und ging zum Getränkeautomaten im Hauptkorridor, kaufte eine Büchse Cola und ging damit zurück zu Großvater. Er hatte aber noch immer keinen Durst, also trank ich die Büchse selber leer.
Fortsetzung folgt
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