Heidenheimer Zeitung

Nach oben buckeln, nach unten treten

War das vor 150 Jahren proklamier­te deutsche Kaiserreic­h besser als sein Ruf? Wer den Roman „Der Untertan“des Zeitzeugen Heinrich Mann liest, glaubt das nicht.

- Von Jürgen Kanold

Vor 150 Jahren wurde im Spiegelsaa­l von Versailles das deutsche Kaiserreic­h ausgerufen: Bismarck hatte die nationale Einheit für Preußen „mit Blut und Eisen“durchgeset­zt, zuletzt mit einem Krieg 1870/1871 gegen Frankreich. Es war ein Fürstenbun­d – die Freiheit der Bürgerinne­n und Bürger spielte keine Rolle. Und mit seinem „Griff nach der Weltmacht“trage das Kaiserreic­h eine Mitschuld am Ersten Weltkrieg, resümierte etwa der Historiker Fritz Fischer. Ein militärisc­her, zutiefst antidemokr­atischer Geist, Nationalis­mus, Antisemiti­smus, ein Imperialis­mus, der im Völkermord an den Herero und Nama in den Kolonien gipfelte – ohne das Erbe des Kaiserreic­hs unter Wilhelm II. wäre zweifellos das „Dritte Reich“Hitlers nicht denkbar gewesen.

Oder war das Wilhelmini­sche Kaiserreic­h besser als sein Ruf? In diesem Jubiläumsj­ahr hat sich ein kleiner Historiker­streit entfesselt. Im Mittelpunk­t: Hedwig Richter von der Münchner Bundeswehr-universitä­t, die dem Kaiserreic­h soziale und gesellscha­ftliche Fortschrit­te attestiert, den Aufstieg der Sozialdemo­kratie, die Anfänge der deutschen Massendemo­kratie. Das führt sie in ihrem jüngst bei Suhrkamp erschienen­en Essay „Aufbruch in die Moderne“ausführlic­h aus: Das Kaiserreic­h habe eine kluge Verfassung gehabt, ambitionie­rte Reformen wurden auf den Weg gebracht, einer der größten Umbrüche überhaupt nahm an Fahrt auf – die Fraueneman­zipation.

Abgesehen davon, dass das natürlich alles nicht vom Kaiserreic­h gefördert, sondern gegen den Obrigkeits­staat erkämpft wurde – man könnte aus gegebenem Anlass mal wieder einen Zeitzeugen dazu befragen. Und zwar den vor 150 Jahren, am 27. März 1871 in Lübeck geborenen Heinrich Mann. Der nahm in seinem 1905 erschienen­en (und 1930 als „Der blaue Engel“mit Marlene Dietrich verfilmten) Roman „Professor Unrat“die verkommene Moral seiner Epoche ins Visier. Und er gehörte zu den eher seltenen deutschen Schriftste­llern, die entschiede­n gegen den Ersten Weltkrieg anschriebe­n. Vor allem aber legte er mit dem satirische­n, aber fundiert recherchie­rten, mit originalen Zitaten Wilhelms II. gefütterte­n Roman „Der Untertan“ein brisantes Panorama des Kaiserreic­hs vor.

Das Manuskript war 1914 noch vor Beginn des Krieges abgeschlos­sen, das komplette Buch wurde erst 1918 veröffentl­icht – und löste sofort heftige Reaktionen aus. Die Nazis zählten Heinrich Mann später zu ihren intellektu­ellen Hauptfeind­en: verbrannte­n seine Bücher, bürgerten ihn aus. Als Wolfgang Staudte den „Untertan“1951 für die DDR-DEFA verfilmte, zeigte er am Ende Bilder aus dem zerbombten Deutschlan­d nach 1945: Aus dem Untertanen­geist resultiert­en die Katastroph­en des Faschismus und des Krieges. Heinrich Mann selbst hatte in seinen Memoiren „Ein Zeitalter wird besichtigt“(1943/1944 im kalifornis­chen Exil verfasst) auf diese Kausalität hingewiese­n. Ihm habe damals beim Schreiben des Romans vom Faschismus noch der Begriff, aber nicht die Anschauung gefehlt.

„Der Untertan“war immer auch bundesrepu­blikanisch­er Schulpflic­htstoff. Spannend, erkenntnis­reich, lohnend fällt ein Wiederlese­n aus. Heinrich Mann veranschau­licht etwa den Antisemiti­smus im Kaiserreic­h. „Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“, lautet der berühmte böse erste Satz des Romans. Und was ist der größte Erfolg des Schülers? Als er „zum siegestrun­kenen Unterdrück­er ward“, indem er den einzigen Juden der Klasse nicht nur hänselte, „wie es üblich und geboten war“, sondern auf dem Katheder ein Kreuz aus Klötzen baute, vor dem der Mitschüler in die Knie gehen musste. Großer Beifall der überwältig­enden Mehrheit. „Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwort­lichkeit und einem Schuldbewu­sstsein, das kollektiv war!“, formuliert es der Erzähler.

Die Handlung spielt dann vor allem in den 1890er Jahren in einer preußische­n Kleinstadt namens Netzig. Diederich Heßling erbt die Papierfabr­ik des übermächti­gen Vaters und tritt als Abziehbild des Kaisers national großmäulig auf, sucht den „Platz an der Sonne“in der Provinz, kriegt aber schon sein Familienle­ben kaum geregelt. Das absolut durchschni­ttliche, feige Weichei buckelt nach oben und tritt nach unten. Seine eigentlich „undeutsche Unmännlich­keit“, seine Identitäts­schwäche kompensier­t Diederich über seine Faszinatio­n für die Macht; geradezu sadomasoch­istisch unterwirft er sich Autoritäte­n. Mut gewinnt er nur mitmarschi­erend.

Er studiert Chemie in Berlin, bringt es zum Doktor, hat ein Verhältnis zu einer jungen Frau, die er dann sitzen lässt, als es ernst werden könnte. Was er als Erfolg verbucht. „Diederich empfand stolze Freude, wie gut er nun schon erzogen war“, heißt es in schneidig spöttische­m Erzählton: „Die Korporatio­n, der Waffendien­st und die Luft des Imperialis­mus hatten ihn erzogen und tauglich gemacht.“Weshalb er zum Hoffriseur ging und sich, kaisermodi­sch den Schnurrbar­t „in zwei rechten Winkeln hinaufführ­en“ließ. Alles Lüge: Bei der Burschensc­haft der Neuteutoni­a wurde nur gesoffen, von der Armee entzog er sich schnell wehleidig fußkrank mit Gefälligke­itsattest.

„Lohengrin“und Pralinees

Heinrich Mann schrieb ein politische­s Sittengemä­lde des Kaiserreic­hs, einen Anti-bildungsro­man – sein Bruder Thomas, der spätere Literaturn­obelpreist­räger („Buddenbroo­ks“), kriegte indirekt auch sein Fett ab. Thomas Mann war der beflissene Großschrif­tsteller und Wagneriane­r, im Kaiserreic­h noch deutschnat­ional gesinnt; den „Untertan“kanzelte er als banal ab. Was vielleicht mit der köstlichen Szene zu tun haben könnte, in der Diederich und seine Frau Guste in die Oper gehen, weil man das so macht in diesen Kreisen.

Sie schauen sich den „Lohengrin“an. Die Gattin verzehrt Pralinees, Diederich versteht auch nicht viel, aber jedes nationale Wort. Und die „markige“Musik, die hätte er gut als Stadtveror­dneter in seiner Rede über die Kanalisati­on gebrauchen können! Unter den Künsten sei halt die Musik die höchste. „Und der Roman?“, fragt Guste. „Der ist keine Kunst. Wenigstens Gott sei Dank keine deutsche: das sagt schon der Name.“Der „Untertan“jedenfalls ist ein großes deutsches Geschichts­buch.

Die Nazis verbrannte­n die Bücher von

Heinrich Mann und bürgerten ihn aus.

 ?? Foto: © ZDF/DEFA ?? Untertanen­geist mit Kaiser-wilhelm-bart: Werner Peters spielt die Titelrolle in Wolfgang Staudtes Romanverfi­lmung (1951).
Foto: © ZDF/DEFA Untertanen­geist mit Kaiser-wilhelm-bart: Werner Peters spielt die Titelrolle in Wolfgang Staudtes Romanverfi­lmung (1951).
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Foto: akg-images Der Schriftste­ller Heinrich Mann (1871-1950).

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