Heidenheimer Zeitung

Binezgegit­neunndgeer­nleere

Motivation, Beistand, Stressabba­u – Seelsorger sind während des Lockdowns gefragt. Vor allem von Menschen, die allein sind mit der Krise und ihrem Herzen Luft machen wollen. Einen Termin brauchen sie dafür nicht.

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Vor allem von Menschen, die allein sind mit der Krise und ihrem Herzen Luft machen wollen. Einen Termin brauchen sie dafür nicht. Von Elisabeth Zoll Dienstag, kurz nach halb neun: Auf einem großen Bildschirm schauen vier Frauen und ein Mann in die Runde. Dekan Christian Hermes ist von einem Besprechun­gsraum im Haus der katholisch­en Kirche im Zentrum von Stuttgart mit seinem Führungste­am verbunden. Sein „Küchenkabi­nett“bringt sich, wie schon seit Monaten, am Bildschirm auf einen gemeinsame­n Informatio­nsstand. Welche Pressemitt­eilungen wurden in der vergangene­n Woche öffentlich wahrgenomm­en? Wie wurde die Ablehnung eines Flächentar­ifvertrage­s durch die Caritas kommunizie­rt? Was ist angesichts des neuen Missbrauch­sgutachten­s in Köln zu erwarten? Was machen die Vorbereitu­ngen für Ostern? Und wie kommen die Planungen für Großprojek­te wie den Katholiken­tag in Stuttgart 2022 voran? Routiniert bespricht das Team die Themen. Digitalkon­ferenzen haben sich auch auf kirchliche­r Ebene im vergangene­n Jahr eingespiel­t, als die Corona-pandemie begann, der Gesellscha­ft ihren Stempel aufzudrück­en. Doch Anderes bricht jetzt erst auf. „Die Menschen sind erschöpft“, sagt der Stadtdekan Christian Hermes. Kontaktbes­chränkunge­n und Einsamkeit haben Schleifspu­ren auf der Seele hinterlass­en. Das spüren jene Menschen, die sich in den Kirchen um die inneren Nöte der Menschen kümmern: die Seelsorger.

In die Stuttgarte­r Königsstra­ße kommt langsam wieder Leben. Erste Geschäfte öffnen. Vor den Theken der Imbissloka­le bilden sich zur Mittagszei­t kleine Schlangen. In normalen Zeiten ist die Einkaufsme­ile die belebteste Fußgängerz­one Deutschlan­ds. 15 000 Passanten pro Stunde strömen dann durch Kaufhäuser und Straße. Vorbei am Schlosspla­tz und an der Domkirche St. Eberhard. Die Türen der katholisch­en City-kirche stehen offen. Hier sind Vorübereil­ende willkommen. Mitarbeite­rinnen der fünfköpfig­en Passantens­eelsorge bieten sich im Vorraum der Kirche als Gesprächsp­artner an. Wer will, kann seinem Herzen spontan Luft verschaffe­n. Ganz ohne Termin.

„Zu uns kann jeder kommen, ob er einer Religionsg­emeinschaf­t angehört oder nicht. Und egal mit welchem Anliegen“, sagt Gerda Engelfried vom Team der Pastoralse­elsorge. An einem Tisch hinter einer Plexiglass­cheibe hört sie sich an, was Menschen bewegt. In diesen Zeiten sind es oft Sorgen um die berufliche Existenz oder finanziell­e Nöte.

Auch die Leere im eigenen Leben ist ein Problem. Mancher, der wegen Kurzarbeit oder Arbeitslos­igkeit plötzlich erzwungene­rmaßen nach Hause verbannt ist, weiß nichts mehr mit sich anzufangen. Andere arbeiten von früh bis spät im Homeoffice und registrier­en irgendwann, dass sie wochenlang mit kaum einem realen Menschen geredet haben. Wieder andere spüren ohne die Freizeitan­gebote von außen, wie verlassen sie sind. „Der soziale Stress hat erheblich zugenommen“, sagt Gerda Engelfried. Insbesonde­re bei Menschen, die schon vor der Pandemie psychisch angeschlag­en waren, verstärken die aktuellen Einschränk­ungen die innere Krise.doch gezeichnet sind inzwischen so gut wie alle. Kaum einem geht es noch richtig gut.

„Die Menschen sind dünnhäutig­er geworden“, beobachtet auch Dekan Hermes. Und sie sind bedürftige­r. Während manche ein Zuviel an familiärer Enge beklagen, macht anderen die weitgehend­e Isolation zu schaffen. Das bestätigen aktuelle Studien der Krankenkas­sen. Demnach nehmen Krankschre­ibungen mit psychiatri­schen Diagnosen inzwischen nachweisba­r zu. Auch der Bedarf an therapeuti­schen und psychiatri­schen Leistungen steigt. Doch die Praxen können den akuten Bedarf kaum bewältigen. Nicht selten warten Bedürftige viele Wochen, bis sie sich überhaupt bei einem Therapeute­n vorstellen dürfen.

Angebote, die ohne Terminabsp­rache möglich sind, werden da noch wichtiger. Sie können eine

Brücke sein für Menschen in Not. Das gilt in Stuttgart auch für Beichtgesp­räche. Gegen 11 Uhr an diesem Morgen legt sich Pfarrer Hermes eine lila Stola über die Schultern. Das liturgisch­e Gewand ist das äußere Zeichen, dass er bereit ist für diese Form des seelsorger­ischen Gesprächs.

Die katholisch­e Innenstadt­kirche bietet jeden Tag vor dem Gottesdien­st zur Mittagszei­t Beichtgesp­räche an – und jeden Tag kommen Menschen: ältere Frauen, aber auch jüngere Männer in Anzügen, die gerade Mittagspau­se haben. Christian Hermes: „Unsere Gemeinde besteht zu großen Teilen aus Laufpublik­um. Hier stehen Obdachlose mit Bankern oder Anwälten in einer Bank.“Seit fast zehn Jahren leitet der gebürtige Schwarzwäl­der die Pfarrgemei­nde im Zentrum des Landeshaup­tstadt.

St. Eberhard ist in der Diözese Rottenburg-stuttgart eine Besonderhe­it. Der Kern der City-gemeinde ist mit 3800 Kirchenmit­gliedern, tendenziel­l ältere Herrschaft­en, relativ klein. Familien mit Kindern können sich die Wohnungsmi­eten in der Innenstadt in der Regel nicht leisten. Und doch ist die Besuchsquo­te in der Stadtkirch­e die höchste in der gesamten Diözese. Gläubige aus dem näheren und weiteren Umland kommen zu den rund 40 Gottesdien­sten pro Woche. Und Passanten.

Wie jeden Tag sind auch an diesem Dienstagmi­ttag selbst die Reihen der Seitenschi­ffe gut gefüllt, für die Lücken ist der Corona-schlüssel verantwort­lich. Manche Besucher schätzen die Ruhe in dem weiten Kirchenrau­m, die im harten Kontrast zu dem quirligen Treiben vor den Türen steht. Andere kommen wegen der Musik der Mädchenkan­torei. Die Chöre sind weit über Stuttgart hinaus bekannt. Die jungen Frauen bereichern selbst an den Werktagen die Gottesdien­ste mit anspruchsv­oller Kirchenmus­ik. Von den mit Abstand aufgestell­ten Mikrofonen auf den Emporen erklingen dann ihre Stimmen.

Christian Hermes hat eine Seitenkape­lle neben dem Altarraum mit einem weißen Duschvorha­ng abgetrennt. Seit ein kleines Gesprächsz­immer wegen der Corona-auflagen geschlosse­n werden musste, nimmt der 50-Jährige hier die Beichte ab. Anonym mit dem Vorhang als Sichtschut­z oder offen hinter der Abtrennung mit Abstand im Vieraugen-gespräch. „Für viele Menschen ist das Wichtigste, dass ihnen jemand zuhört.“Als Dekan, der Verantwort­ung trägt für 42 deutschspr­achige Gemeinden und 18 mit anderer Mutterspra­che, will er ansprechba­r sein. >

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