Eingefrorenes Leben
Moscheen sind Treffpunkte der Generationen. Doch mit Corona ist es auch dort still geworden. Die Bindungen werden lockerer, fürchtet der Imam der bosnischen Gemeinde in Ulm.
< Einsamkeit war in der gut 600 000 Einwohner zählenden Stadt schon vor der Pandemie ein Problem. In 50 Prozent der Haushalte lebt jeweils nur eine Person, viele von ihnen treffen die Kontaktbeschränkungen hart. Keine Gespräche mehr in Cafés, keine Begegnungen in Fitnesscentern, Theatern oder Museen. „Es hat mich erstaunt, dass viele alte Menschen mit großer Ruhe und Zuversicht diese Krise aushalten“, beobachtet Christian Hermes. Sie haben in ihrem Leben schon viele Herausforderungen erlebt. Besonders hart ausgebremst werden derzeit die sonst so Aktiven. „Mit jedem Tag spüren sie die Einschränkungen durch den Lockdown mehr. Nicht wenigen fällt es von Tag zu Tag schwerer, sich immer wieder neu zu motivieren.“
Kontakt halten ist daher das Gebot der Stunde. Es ist eine Übung auf Distanz. Wo Menschen nicht mehr zur Kirche gehen können, müsse die Kirche zu den Menschen kommen, sagt Christian Hermes. Das Seelsorgerteam ist trotz Kontaktauflagen auf Krankenbesuche eingestellt, mit Maske und Abstand. Auch auf die teils dramatischen Situationen in Alten- und Pflegeheimen waren die Helfer vorbereitet. „Ein Anruf beim Pfarrer, und einer aus unserem Notfallteam wäre gekommen.“
Anderes wird ausgelagert in die digitale Welt, neue Formate haben sich entwickelt. Bibelkreise gibt es jetzt digital, gestreamte Gottesdienste zählen zum festen Angebot. Was war das für eine Nervosität vor einem Jahr, als Gottesdienste an den Kar- und Ostertagen mit Kameras aufgenommen und ins Netz gestellt werden mussten! Inzwischen ist beinahe Routine eingekehrt. „Wir üben mit unserer Technik so lange, bis wir es können“, sagt Christian Hermes.
Das Angebot kommt an. Manche schauen sich die Gottesdienste zu einem späteren Zeitpunkt an. Vielleicht auch, um bei einer langweiligen Predigt
der Moschee. Kein Kinderlachen dringt aus der Spielecke, keine Bälle schlagen auf Still ist es in im Sportraum, in dem sonst Jugendliche Handball spielen. Auch Café und Küche sind verwaist. Das öffentliche Leben in der bosnischen Moschee in Ulm ist seit Monaten eingefroren. Wenige Gemeindemitglieder treffen sich nur noch zu den fünf Gebetszeiten pro Tag.
Samir Haskic blickt in die renovierten Zimmer. 1999 hatte seine Gemeinde das ehemalige Squash-center am Stadtrand gekauft und zu einer Moschee umgebaut. Die hellen, transparenten Räume haben sich zu einem Treffpunkt für alle Generationen entwickelt. „An den Wochenenden waren oft zwischen 100 und 200 Jugendliche da.“Imam Haskic hat sie in Ethik, Religionskunde und Gebet unterrichtet.
Nun streift der 31-Jährige alleine durch das Gebäude. Der direkte Kontakt zu seinen Gemeindemitgliedern fehlt ihm sehr. Gerade der persönliche Austausch mit den Jugendlichen und die Gespräche mit Älteren und Alten haben seine Arbeit als Religionsgelehrter und Seelsorger ausgemacht. „Ich habe mir die prophetische Aussage zur Aufgabe gemacht: Wer ein guter Gläubiger sein will, muss sich gut mit der Jugend verstehen und die Älteren respektieren.“
Corona hat seinen Berufsalltag verändert. Um mit den 620 Familien seiner Gemeinde wenigstens locker in Kontakt zu bleiben, begann Imam Haskic während des ersten Lockdowns kleine religiöse Botschaften oder einen Vers aus dem Koran per Facebook und Whatsapp zu verschicken. Doch die digitalen Angebote ersetzt kein persönliches Miteinander.
Samir Haskic hat in den vergangenen Monaten erfahren, wie wichtig ein Anruf für Menschen ist, die für Wochen in Quarantäne leben müssen. Auch zu alten Gemeindemitgliedern und Kranken hält er Kontakt. Als Seelsorger darf er Kliniken und Pflegeheime betreten, trotz strenger Besuchsbeschränkungen. Für Besuchte und Angehörige ist das oft ein Lichtblick. Der Geistliche kann Wünsche und Botschaften der Familien mit auf die Krankenstation nehmen. Besuche sind ein wichtiger Teil der seelsorgerischen Arbeit von Samir Haskic. „In vielen Familien brechen gerade Probleme auf.“Die vorspulen zu können. Einen Teil der Erwachsenen kann das Pastoral-team damit jedenfalls erreichen. Sorgen bereiten Christian Hermes die Jugendlichen und die Mädchenkantorei. „Wir erleben gerade, wie schnell wir auf dem Trockenen sitzen, wenn wir unsere Räume nicht für Jugendtreffen öffnen dürfen.“Kein Kommunion-unterricht in der Gruppe, keine Firmvorbereitung in Präsenz. Auch die Ministrantengruppen leiden. Wenn Eltern wegen der Zugangsbeschränkungen nicht mehr zum Gottesdienst kommen, blieben auch die
Enge in den Wohnungen führt zu Spannungen. Auch die finanziellen Sorgen, die Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit mit sich bringen, oder die Angst, Kreditraten nicht mehr bedienen zu können, erhöhen den Druck auf Familien. Hinzu kommen psychische Probleme. Depressionen nehmen zu. „Die Krisen in den Familien haben sich vertieft.“
Samir Haskic bietet sich an als Zuhörer. „Jeder Mensch braucht jemanden, der ihm zuhört, der ihn versteht.“Der junge Iman ist in Bosnien in der Nähe zur kroatischen Grenze aufgewachsen und hat in Kairo Islamwissenschaften studiert. In Deutschland lebt er mit seiner Familie seit 2014. Seine Frau arbeitet an der Uni-klinik. Die beiden haben zwei kleine Söhne im Alter von 5 und 7 Jahren. In der Pandemie suchten Menschen oft gezielt nach jemandem, bei dem sie Seele und Gewissen entlasten können, sagt Samir Haskic. Und dem sie sich anvertrauen mit ihrer Angst vor dem Sterben und dem Tod. „Wo gehe ich hin, wenn ich sterbe?“, werde er gefragt. Und: „Was passiert mit meiner Seele?“
Jugendlichen weg. Hermes schätzt, dass die Gruppe der Ministranten in St. Eberhard auf ein Drittel geschrumpft ist. Wer jetzt noch regelmäßig komme, gehöre zu einer eingeschworenen Schar.
Was bleibt nach der Pandemie, was ist für immer verloren? Wie viele Menschen werden sich die Gottesdienste am Sonntag abgewöhnt haben? Noch kann das niemand sagen. Doch mit der Pandemie verändern auch die Kirchen ihr Gesicht. Was als Aufgabe bleiben wird, ist die Begleitung von Menschen.
Viele seiner Gesprächspartner seien nachdenklicher geworden, erzählt er. Sie hätten alte Sicherheiten verloren, zum Beispiel die, dass es für die Zuwanderer aus den Balkanstaaten am starken Wirtschaftsstandort Deutschland beruflich immer weitergeht, dass auch Kinder und Enkel eine Perspektive haben. „Die Pandemie hat gezeigt, wie angreifbar unsere Existenz ist. Daran waren wir nicht gewöhnt.“Und sie habe vor Augen geführt, dass zu einem zufriedenen Leben mehr gehört als arbeiten, essen und schlafen. Manche stellten sich erstmals die Fragen: Was will ich in meinem Leben? Was ist meine Rolle in der Welt? Was gehört zu einem mitfühlenden, solidarischen Leben?
Ob Menschen auch in Zukunft Kraft und Stabilität in ihrer Religion finden, ist noch nicht ausgemacht. Imam Haskic registriert, dass die Bindungen innerhalb der Moscheegemeinde in der Corona-krise lockerer werden. Männer, die sonst auch während der Woche zum Gebet gekommen sind, sieht er jetzt nur noch am Freitag. Andere, vor allem Ältere, ziehen sich während der Pandemie ganz vom gemeinsamen Gebet zurück. Es sei noch zu früh zu sagen, was aus der Gemeinde in Zukunft wird. Ob sie sich atomisiert oder nach dem Lockdown mit neuem Elan zusammenfindet.
Samir Haskic jedenfalls hofft auf einen baldigen fröhlichen Austausch in und außerhalb der Moschee. Vielleicht punktuell schon während des Ramadan, der am 13. April beginnt. „Immerhin dürfen wir dieses Jahr wieder gemeinsam beten. Das ist schon ein Fortschritt.“Möglicherweise kommt dann mit der Zeit auch wieder die Unbeschwertheit. Samir Haskic: „Ich freue mich so darauf, Menschen wieder glücklich zu sehen.“
Noch ist es anders. Das Telefon klingelt. Ein Gemeindemitglied ist verstorben. Der Imam wird gebeten, die rituelle Waschung zu begleiten. Am Tag darauf steht die Bestattung an. Dann wird Samir Haskic einige Mitglieder seiner Gemeinde sehen, er wird reden und versuchen, Trauernde zu trösten. Auch das ist Aufgabe eines Seelsorgers. Nicht nur in der Pandemie.