Heidenheimer Zeitung

Wenn die Oma zur Mama wird

Etwa 100 000 Kinder in Deutschlan­d leben nicht bei ihren Eltern, sondern bei Verwandten – meist bei Oma und Opa. Drei Familien erzählen, was das für sie bedeutet.

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„Da kommt deine Mama!“Wenn Andrea Binik Paula (8), Chantal (6) und Liam (1) von der Schule und vom Kindergart­en abholt, fällt sie nicht weiter auf. Mit ihren 44 Jahren könnte sie tatsächlic­h die Mutter des Trios sein – und nicht die Großmutter. „Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich das auch nicht gemacht.“Mit „das“meint sie die Pflege ihrer drei Enkel, die bei ihr aufwachsen. Zwar lebt ihre Tochter (26) auch mit im Haus, sie zockt aber die Nächte durch am Computer, statt die Kinder zu versorgen, und sitzt tief in der Schuldenfa­lle. Zu den Vätern der Kinder gibt es keinen Kontakt.

„Meine Tochter liebt ihre Kinder und hat auch einen engen Kontakt zu ihnen“, sagt Andrea Binik. Aber sie sei eben keine verlässlic­he Mutter. Also schmeißt die Oma den Haushalt, kocht, wäscht, spielt, räumt auf, betreut Hausaufgab­en. Und das, obwohl sie selbst drei Kinder großgezoge­n hat, von ihrem Mann getrennt lebt und ihren Job aufgeben musste, um Zeit für die Enkel zu haben. „Ich hatte einen fahrbaren Imbiss, das hätte mit den Kindern nicht funktionie­rt.“

Nun lebt sie von Arbeitslos­engeld II, für die Kinder bekommt sie Grundsiche­rung. „Natürlich ist das alles nicht einfach und sehr anstrengen­d“, sagt Andrea Binik. Aber es gebe eben auch keine Alternativ­e für sie. „Ich kann doch meine eigenen Enkelkinde­r nicht in eine fremde Pflegefami­lie geben.“

Maria ist sechs Jahre alt und kann weder sprechen

Pflegefall Enkelkind noch laufen. Wegen einer Zyste im Kopf ist sie mehrfachbe­hindert, ihr fehlt ein Teil des Gehirns. Maria leidet unter Schrei-attacken und epileptisc­hen Anfällen. Sie hat keinen Schlaf-wach-rhythmus und hält ihre Großeltern teilweise nächtelang wach. Denn bei ihnen lebt Maria, weil ihre Mutter sehr damit zu kämpfen hat, dass ihr Kind so krank ist, und deshalb selbst Hilfe in Anspruch nehmen muss.

„Wir wussten schon während der Schwangers­chaft, dass etwas mit dem Baby nicht stimmt. Die Ärzte rieten im 8. Monat zu einer Abtreibung, aber das kam für uns alle nicht infrage“, sagt Julia Schwarzkop­f, 49 Jahre alt und die Oma von Maria. Also kündigte sie mit der Geburt der Enkelin ihren Job als Reinigungs­kraft und übernahm nicht nur die Mutter-, sondern auch die Pflegeroll­e.

„Natürlich kommen wir immer wieder an unsere Grenzen“, sagt Julia Schwarzkop­f. Außer von ihrem Mann, der Vollzeit arbeitet, erfährt sie kaum Unterstütz­ung. Der Familien- und Freundeskr­eis kann nicht verstehen, warum sie sich das antut. Sie habe doch gar kein eigenes Leben mehr. Selbst

Marias Arzt hat den Schwarzkop­fs geraten, das Mädchen in eine Einrichtun­g zu geben. Für Julia Schwarzkop­f ist das keine Option. „Solange ich die Kraft habe, mich zu kümmern, mache ich das auch. Es ist immerhin mein Enkelkind.“ uns da einlassen.“Die größte Sorge der Schillings: ihr Alter. „Wir waren 53 und 55 Jahre alt und uns war schon bewusst, dass wir über 70 sind, wenn das Kind volljährig ist.“Und dann stand auch noch die Beziehung zur Tochter auf dem Spiel, zu der sie im Zweifelsfa­ll den Kontakt abbrechen müssten. „Das Jugendamt machte uns schon während der Schwangers­chaft klar, dass wir als Pflegeelte­rn ausschließ­lich das Wohl der Enkelin im Blick haben dürfen“, sagt Doris Schilling.

In den ersten Jahren war das kein Problem, ihre Tochter lebte mit im Haus, versuchte es mit mehreren Therapien und kümmerte sich auch mit um ihr Kind. Doch immer wieder kam es zu Rückfällen, Beschaffun­gskriminal­ität, Gefängnis. Heute, neun Jahre später, haben die Großeltern auch das Sorgerecht für die Enkelin. Den Vater – ebenfalls drogenabhä­ngig – kennt das Mädchen nur von einem Foto. Die Mutter hat ihr Kind seit eineinhalb Jahren nicht mehr besucht. „Wir haben aber regelmäßig­en telefonisc­hen Kontakt und sie interessie­rt sich auch für die Entwicklun­g ihrer Tochter“, erzählt Doris Schilling.

Für die Verwandten­pflege bekommen die Schillings rund 600 Euro im Monat. „Normale Pflegeelte­rn, die nicht verwandt sind, erhalten mehr als das Doppelte, das ist schon nicht ganz gerecht“, sagt Doris Schilling. Denn die Verwandten­pflege sei für viele Kinder die bessere Lösung, erspare ihnen manche Probleme, die eine fremde Pflegefami­lie mit sich bringt. Doris Schilling weiß, wovon sie redet. Ihre Tochter ist selbst ein Adoptivkin­d.

Alle Namen im Text geändert.

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