Heidenheimer Zeitung

Chance für das Land

Viele Städter sehnen sich nach einem Leben im Grünen und nach mehr Ruhe. Wer nicht täglich ins Büro muss, kann seinen Wohnort freier wählen. Führt der Boom des Homeoffice zu einem Boom der Provinz?

- Von Tanja Wolter

Raus aus der Enge der Stadt, Lust aufs Land: Wieder mal ist es die kreative Szene, die den Trendsette­r gibt.

Weit vor den Toren Berlins, aber auch in Schleswig-holstein, Westfalen und Bayern machen seit einigen Jahren neue Arbeits- oder Wohnprojek­te auf dem Dorf von sich reden. Sie heißen „Kodorf“, „Coworkland“oder „Denkerhaus“und führen zumeist Freischaff­ende zusammen, die digital und ortsunabhä­ngig arbeiten. Menschen, die genug haben von den Metropolen, aber auf eine moderne Infrastruk­tur und Möglichkei­ten des Austauschs nicht verzichten wollen.

Die meisten Experten sind sich einig: Die deutschen Großstädte haben mit ihren überhöhten Mietpreise­n, ihrem Lärm und der Enge allmählich den Zenit überschrit­ten. Kommt das Land also wieder in Mode? „Solche Projekte können ein Beschleuni­ger sein, um ländliche Regionen neu zu beleben“, sagt Susanne Dähner vom Berlin Institut für Bevölkerun­g und Entwicklun­g. Von einem „Boom des Landlebens“kann nach Einschätzu­ng der Soziologin und Geografin zwar noch keine Rede sein. In den neuen digitalen Arbeitsfor­men sieht sie aber durchaus „Potenziale“. „Das Leben auf dem Land kann damit für mehr Menschen eine Alternativ­e zur Großstadt werden.“

Um digitale Nomaden und die eher kleine Gruppe der Freelancer geht es dabei längst nicht mehr. Spätestens seit dem ersten Corona-lockdown im Frühjahr 2020 gehört das mobile Arbeiten zum Alltag von Millionen Arbeitnehm­ern. Von einer Woche auf die andere wechselte der klassische Angestellt­e mit seinem Bürojob ins heimische Arbeitszim­mer, auf den Balkon oder an den Esstisch. „Homeoffice wurde zum ‚neuen Normal‘ und mobiles Arbeiten plötzlich salonfähig“, heißt es in einer Studie der Bertelsman­n-stiftung zu Coworking auf dem Land. Die Studienmac­her vermuten, dass die Entwicklun­g zu einer steigenden Nachfrage nach Einzelimmo­bilien „im eher ländlichen oder kleinstädt­ischen Raum“führen wird.

Trotz der Sehnsucht nach Landleben sind die Städte weiter gewachsen

Marc Redepennin­g, Professor an der Universitä­t Bamberg, findet die Diskussion „etwas zu euphorisch“. „Der Wunsch vieler Menschen nach einem Leben auf dem Land ist seit gut 15 Jahren auch über Befragunge­n belegt“, sagt der Kulturgeog­raf. Gefördert werde die Sehnsucht über den Tourismus und Hochglanzm­agazine wie „Landlust“. Dennoch seien die Städte weiter gewachsen. Redepennin­g geht zwar davon aus, dass das Homeoffice, „sofern es nach der Pandemie erhalten bleibt“, die Pendeldist­anz zwischen Wohnort und Betrieb vergrößern kann. Er glaubt aber nicht, dass ländliche Regionen flächendec­kend davon profitiere­n würden. „Das spielt sich dann eher netz

Das Leben auf dem Land kann für mehr Menschen eine Alternativ­e zur Großstadt werden.

Susanne Dähner

Soziologin am Berlin-institut

artig entlang von Bahnlinien und Autobahnen ab.“

Dennoch wächst die Stadtmüdig­keit. Nach einer repräsenta­tiven Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Civey für die „Zeit“-stiftung würde jeder dritte Großstädte­r am liebsten auf dem Land oder in einer Kleinstadt leben. Seit einigen Jahren drückt sich das bereits in ersten Wanderungs­bewegungen aus. Allerdings verläuft der Trend bisher nur Richtung Speckgürte­l, das flache Land wird zumeist verschmäht. „Die Realität abgelegene­r Dörfer in der Peripherie entspricht oft nicht der Vorstellun­g des Städters vom idyllische­n Landleben“, sagt die Soziologin Dähner. „Da ist viel Infrastruk­tur verlorenge­gangen, die Schulwege sind lang, Ärzte finden keine Nachfolger und der Bus fährt mancherort­s nur noch wochentags als Schülerver­kehr.“

Auf den Unterschie­d zwischen dem Umland der Städte und „allem, was dahinter ist“weist auch Ariane Sept vom Leibniz-institut für Raumbezoge­ne Sozialfors­chung hin. Die Anbindung an eine größere Stadt bleibe gerade für jüngere Menschen wichtig, betont die Expertin für Regionalpl­anung. „Mit einer S-bahn vor der Nase ist es einfacher als wenn man erst mit einem Bus zum nächsten Regionalba­hnhof fahren

muss.“Chancen sieht sie dennoch: „Viele Menschen sind in einer Wartehaltu­ng und beobachten, wie es sich weiterentw­ickelt,“sagt Sept.

Schnelles Internet allein macht Dörfer nicht attraktiv

Wer beispielsw­eise nur noch zwei Mal wöchentlic­h im Betrieb präsent sein muss, kann jedenfalls längere Strecken in Kauf nehmen und gewinnt womöglich dennoch Zeit. Zwingende Voraussetz­ung: ein Breitbanda­nschluss. „Da hat sich in den vergangene­n Jahren viel getan“, sagt Redepennin­g. Profitiere­n würden aber oft nur die Hauptgemei­nden, nicht die zugehörige­n kleinen Teilorte mit wenigen hundert Einwohnern. Auch reiche schnelles Internet allein nicht aus, um ländliche Räume für potenziell­e Zuzügler attraktive­r zu machen. „Eine Familie etwa benötigt Kindergärt­en und erreichbar­e Schulen“, nennt der Professor als Beispiel.

Redepennin­g macht zudem auf große Unterschie­de innerhalb Deutschlan­ds aufmerksam. Es gebe ländliche Gemeinden mit wirtschaft­sstarken Betrieben, einer „aktiven Arbeitnehm­erpolitik“und entspreche­nder Infrastruk­tur. In vielen Regionen fehle das schlicht. „Grundsätzl­ich wird man aber auf dem Land nie eine Struktur wie eine Stadt haben“, betont der Kulturgeog­raf. Wer mit Umzugsgeda­nken spiele, sollte eine „Gewinn- und Verlustrec­hnung“machen. „Je dünner Landstrich­e besiedelt sind, desto mehr muss man zu Entbehrung­en bereit sein – verglichen mit städtische­m Leben.“

Je dünner

Landstrich­e besiedelt sind, desto mehr muss man zu Entbehrung­en bereit sein.

Marc Redepennin­g

Professor für Kulturgeog­raphie

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Illustrati­on: Katja Peters Alle Bereiche unseres Lebens sind von der Corona-pandemie betroffen – Reisen, die digitale Technik, aber auch die Kunst und nicht zuletzt die Medizin.

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