Heidenheimer Zeitung

Wenn die Tür keine Klinke hat

Manche Menschen fühlen sich wegen der Corona-beschränku­ngen wie eingesperr­t. Kann man Quarantäne und Knast vergleiche­n?

- Von Fabian Renz-gabriel

Schulen zu, Geschäfte zu, Kontakte beschränkt, zeitweise nächtliche Ausgangssp­erre und – wenn es ganz schlecht läuft – zwei Wochen Quarantäne: Während der Corona-pandemie beklagten Querdenker und andere Maßnahmeng­egner vor allem in sozialen Netzwerken immer wieder, die Menschen würden zu Hause „eingesperr­t“und behandelt „wie Gefangene“.

Wie Gefangene? Jürgen Werner (Name geändert) muss laut lachen, wenn er diesen Vergleich hört. Dann wird er ernst: „Das ist schon was anderes.“Werner weiß, wie es wirklich ist, eingesperr­t zu sein: Acht Jahre lang saß er in einer baden-württember­gischen Justizvoll­zugsanstal­t. Die Beschränku­ngen der vergangene­n zwölf Monate hätten damit nichts zu tun, sagt er – obwohl er während der ersten Welle sogar zehn Tage in Quarantäne musste. „Als ich da vom Test nach Hause kam, habe ich die Tür selbst zugemacht, sie wurde nicht zugeschlos­sen – und sie hatte von innen eine Klinke.“Er habe Fenster öffnen, telefonier­en und Essen bestellen können, wann er wollte, sagt Werner. Entscheidu­ngen, die er im Strafvollz­ug nicht frei treffen konnte.

Komplett fremdbesti­mmt

Das Gefühl, fremdbesti­mmt zu sein, begleite Gefängnisi­nsassen vom ersten Augenblick an, sagt Frank Jansen, Leiter der Justizvoll­zugsanstal­t in Heimsheim im

Enzkreis. „Wann sie Besuch bekommen, wann sie ihre Mahlzeiten einnehmen, wann sie auf den Hof dürfen, welche Kleidungss­tücke sie tragen – all das ist der Entscheidu­ngsfreihei­t entzogen.“Ein Eingriff in die Grundrecht­e, den ein Staat nicht leichtfert­ig vornehmen dürfe – was in Deutschlan­d aber auch nicht der Fall sei, stellt Jansen fest. Immerhin gebe es ein „ausgefeilt­es Sanktionie­rungssyste­m“: Arbeitsstu­nden, Täter-opfer-ausgleich, Geldstrafe, Freiheitss­trafen auf Bewährung, all das seien Strafen, die ohne Haft auskämen, so der promoviert­e Jurist.

Der Tübinger Kriminolog­e Jörg Kinzig kennt jedoch mindestens zwei typische Fälle von Freiheitse­ntzug, die kritisch zu hinterfrag­en seien: für Straftäter, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen können. Und für Täter, die wiederholt Bagatellde­likte wie Schwarzfah­ren begehen. Diese einzusperr­en, sei „ein Zeichen der Hilflosigk­eit“,

findet Kinzig. Immerhin sei eine Freiheitss­trafe ein massiver Eingriff in die Grundrecht­e – in dieser prinzipiel­len Frage könne man schon eine Parallele zu den Corona-maßnahmen sehen, wenn man etwa die Einschränk­ungen

Amnesty Internatio­nal

der Versammlun­gs- oder der Religionsf­reiheit betrachte.

Grundrecht­e müsse man durchaus gegeneinan­der abwägen, sagt Urs Fiechtner, Ulmer Bezirksspr­echer der Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal. „Ein Recht darauf, andere anzustecke­n, gibt es nun mal nicht.“Einschränk­ungen wegen des Infektions­schutzes mit Gefängniss­trafen zu vergleiche­n, findet er „unmöglich“, da nur Letztere eine vollständi­ge Entmündigu­ng bedeuteten. „Man nimmt den Menschen etwas Wesentlich­es weg: ihre Steuerungs­fähigkeit.“

Zwar sei im weltweiten Vergleich die Unterbring­ung und Behandlung von Gefangenen in Deutschlan­d gut, sagt Fiechtner. Allerdings gebe es auch große Unterschie­de zwischen den Haftanstal­ten, selbst innerhalb Baden-württember­gs. Eine Einschätzu­ng, die Kriminolog­e Kinzig teilt, etwa in Bezug auf die Gefängnisa­rchitektur oder den Umgangston der Bedienstet­en. Auch dass Gefangene meist allein in ihren Zellen essen würden, müsse nicht sein, findet Kinzig. „Es wäre schöner, wenn sie in Wohngruppe­n zusammen essen könnten.“

In der Justizvoll­zugsanstal­t Heimsheim können Gefangene regelmäßig gemeinsam kochen – normalerwe­ise. Wegen der Corona-pandemie fällt dieses Angebot derzeit flach, sagt Gefängnisl­eiter Jansen. Nur eine Einschränk­ung von vielen: Auch in den Gefängniss­en gelten Maskenpfli­cht, Abstandsge­bot, Besuchsbes­chränkunge­n. Was das bedeutet, formuliert Ex-häftling Jürgen Werner so: „Für Gefangene stellt sich nicht die Frage, ob der Knast schlimmer ist als die Corona-beschränku­ngen. Sie erleben beides.“

Man nimmt den Menschen etwas Wesentlich­es weg: ihre Steuerungs­fähigkeit. Urs Fiechtner

 ?? Foto: Daniel Naupold/dpa ?? Eingesperr­t: Für so manchen mag sich Quarantäne in Corona-zeiten so anfühlen. Echte Häftlinge können über den Vergleich allerdings nur müde lächeln.
Foto: Daniel Naupold/dpa Eingesperr­t: Für so manchen mag sich Quarantäne in Corona-zeiten so anfühlen. Echte Häftlinge können über den Vergleich allerdings nur müde lächeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany