Demos trotz brutaler Gewalt
Die Kanzlerin mahnt die Länder zu mehr Anstrengungen im Kampf gegen die Pandemie. Dass der Bund künftig allein handelt, ist aber eher unwahrscheinlich.
Yangon. Nach der beispiellosen Gewalt in Myanmar am Wochenende sind in mehreren Städten erneut hunderte Menschen gegen die Militärmachthaber auf die Straße gegangen. In der Region Sagaing nahmen Hunderte an der Beerdigung der 20-jährigen Studentin Thinzar Hein teil, die von Sicherheitskräften erschossen worden war. Us-präsident Joe Biden und mehrere Eu-regierungschefs verurteilten die Gewalt.
Scharfe Kritik an Lockerungen und die Drohung, dass der Bund mehr durchgreifen könnte – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in der Ard-sendung „Anne Will“ihren Unmut über nachlassende Anstrengungen zur Pandemie-bekämpfung geäußert. Sie sei „am Nachdenken“darüber, welche Zusatzmaßnahmen nötig seien, sagte sie. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Warum erhöht die Kanzlerin den Druck auf die Bundesländer?
Merkel bemängelt, dass manche Bundesländer die Notbremse ignorieren. Diese sieht vor, dass ab einer Inzidenzwert von 100 Lockerungen wieder rückgängig gemacht werden. Das Nicht-ziehen der Notbremse etwa in Nordrhein-westfalen und Berlin sei ein Verstoß gegen Beschlüsse, monierte die Kanzlerin. Ebenso wenig halte sie davon, dass das Saarland seine Außengastronomie öffne. Nrw-ministerpräsident Armin Laschet, zugleich CDU-CHEF, wollte die Kritik nicht auf sich sitzen lassen. „Nordrhein-westfalen hat die Notbremse flächendeckend verpflichtend für alle Landkreise umgesetzt“, sagte er. Darüber hinaus sei eine Terminvereinbarung in Geschäften mit einem Corona-test möglich.
Aus der geplanten Osterruhe ist nichts geworden. Wie möchte die Kanzlerin die dritte Infektionswelle stattdessen brechen?
Durch eine Kombination aus Ausgangsbeschränkungen
in Regionen mit besonders hohen Infiziertenzahlen, verpflichtenden Tests, mehr Homeoffice und weiteren Kontaktbeschränkungen.
Welche Optionen hat die Kanzlerin, solche Maßnahmen durchzusetzen?
Merkel nannte drei Möglichkeiten: Die erste Variante wäre die Einberufung einer weiteren Ministerpräsidentenkonferenz – wobei ihr Sprecher Steffen Seibert am Montag mitteilte, dass vor Ostern ein solches Treffen nicht geplant sei. Eine Alternative wäre der Weg über ein Bundesgesetz, das im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig wäre. Möglich wäre auch eine Änderung der im November 2020 beschlossenen Neufassung des Infektionsschutzgesetzes. Der Bundesrat müsste dem mit Mehrheit zustimmen. Merkel kündigte an, den Bundesrat „einbeziehen“zu wollen.
Für welchen Weg wird sich die Kanzlerin entscheiden?
Das ist noch unklar. Bei „Anne Will“sagte sie, sie denke darüber noch nach. Sie wisse aber, dass die Zeit dränge und werde daher „nicht 14 Tage zusehen“, wie die Zahlen immer weiter nach oben gehen.
Müssen die Bundesländer Maßnahmen zur Pandemie-bekämpfung immer mitbeschließen?
Laut dem Verfassungsrechtler Christoph Möllers ist dem nicht so. „Der Bund kann die Bekämpfung der Pandemie gesetzgeberisch abschließend regeln“, sagte der Professor für Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-universität „Spiegel online“. Auch ein vollständiger Lockdown lasse sich per Bundesgesetz regeln. Die Grundlage dafür sei Artikel 74, Absatz 1, Nummer 19 des Grundgesetzes. Der Bund besitze die Gesetzgebungskompetenz für alle „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“, heiße es dort. Der Bund habe die Möglichkeit, Maßnahmen etwa über ein eigenes Gesetz zu regeln. „Alternativ dazu könnte man auch im Infektionsschutzgesetz eine Rechtsgrundlage schaffen, die die Bundesregierung oder den Bundesgesundheitsminister dazu ermächtigt, den Lockdown per Rechtsverordnung bundeseinheitlich anzuordnen“, betonte Möllers. Probleme sehe er allenfalls bei Entscheidungen über Öffnungen und Schließungen von Schulen, da Bildungspolitik Ländersache sei.
Steht der Verfassungsrechtler mit seiner Auffassung allein?
Nein. Auch der Münchner Staatsrechtler Christoph Degenhart sagt, dass Pandemie-maßnahmen auch ohne die Länder in Form von Bundesgesetzen beschlossen werden könnten. „Durchregieren“könne die Kanzlerin aber auch in solchen Fällen nicht, denn die Gesetzgebung sei Sache der Legislative, also des Bundestags.
Aus den Ländern kommt viel Zustimmung zur Idee, dass der Bund strengere Vorgaben machen könnte. So sprach sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes aus, um mehr Kompetenzen zur Pandemie-bekämpfung an den Bund zu übertragen. Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow (Linke) sieht das ähnlich. „Hauptsache, es gibt einen einheitlichen Rahmen“, sagte er.
Was wird aus den Bund-länder-runden bei der Kanzlerin?
„So kann es nicht weitergehen“, sagte Merkel in der Ard-sendung und beschrieb die verunglückte Sitzung von vor einer Woche als „Zäsur“. Staatsrechtler Degenhart hält es aber für unwahrscheinlich, dass Pandemie-maßnahmen künftig ganz ohne Länderbeteiligung beschlossen werden. Das widerspräche Merkels Verständnis einer „kooperativen Demokratie“mit dem Ziel, einen „größtmöglichen Konsens unter Demokraten“herzustellen.