Heidenheimer Zeitung

Eine Gefahr für die ganze Welt

Unter dem rechtspopu­listischen Präsidente­n Jair Bolsonaro, der die Corona-gefahr lange geleugnet hat, erlebt das Land eine Katastroph­e: Viele tausend Tote jede Woche, fast 100 000 Neuinfekti­onen am Tag und eine aggressive Virusmutan­te, der weitere folgen

- Von Tobias Käufer und Ramona Samuel

Osterruhe in Rio de Janeiro: Für mehrere Tage wird die Stadt des Karnevals und des Sambas wieder einmal alle Lebensgeis­ter aus den Clubs, Restaurant­s und vom Strand verbannen. Diese Maßnahme soll helfen, die bisher schlimmste Pandemie-welle zu brechen, denn die Hiobsbotsc­haften in dem südamerika­nischen Land nehmen kein Ende: zuletzt 3600 Tote am Tag, dazu fast 100 000 Neuinfekti­onen. Mehr als 18 000 Tote in der vergangene­n Woche machen Schichtbet­riebe auf den ersten Friedhöfen nötig.

In Brasilien haben sich wichtige Zeitungen zusammenge­schlossen und recherchie­ren die Zahlen selbst, weil sie dem Gesundheit­sministeri­um in Brasilia misstrauen. Dort hat es vor kurzem den dritten Personalwe­chsel an der Spitze gegeben: Immerhin ist Marcelo Queiroga, der jetzt den Kampf gegen die Pandemie führen soll, wieder ein Mediziner.

Ethel Maciel von der Universitä­t UFES in Espirito Santo sieht schwere Wochen auf Brasilien zukommen: „Leider ist die Gefahr real, dass sich durch die vielen Neuinfekti­onen neue Mutationen bilden können“, sagt die Wissenscha­ftlerin im Gespräch mit dieser Zeitung. Ihre Kritik: In Brasilien wurden die Infektione­n zu wenig sequenzier­t. Es gebe Länder, in denen bis zu 10 000 Tests täglich genauesten­s untersucht würden, in Brasilien war das lange Zeit nur bei wenigen tausend Infektione­n der Fall. „Wir müssen wissen, was passiert. An welcher Variante sind die Menschen erkrankt? Wir brauchen diese Antwort“, sagt Maciel.

Wird Brasilien zu einer Art Zeitbombe für die Welt? Wissenscha­ftler fürchten, dass sich das Virus durch weitere Mutationen derart verändert, dass die bisherigen Impfstoffe nicht mehr so gut vor einer Infektion schützen. Im schlimmste­n Fall könnten sich Varianten herausbild­en, gegen die vorhandene Vakzine überhaupt nicht wirken.

„Die Situation ist schrecklic­h“

Die im Moment unter den 210 Millionen Brasiliane­rn grassieren­de Virusmutan­te P1, die laut dem Robert-koch-institut bereits vereinzelt in Deutschlan­d beobachtet wurde, ist hochaggres­siv. Das kann die Krankensch­wester Polyena Silveira aus Erfahrung bestätigen: „Dieses Virus ist viel stärker als das, das wir vor einem Jahr hatten.“Silvereira wurde in diesen Tagen bekannt, weil ein Foto von ihr durch die brasiliani­schen Medien ging. Es zeigt die Krankensch­wester einer Erstaufnah­me-station in Teresina aus dem nordöstlic­hen Bundesstaa­tes Piaui auf dem Boden sitzend. Neben ihr ein sterbender Patient, dem niemand mehr helfen kann, weil alle Betten belegt sind.

In den großen Ballungsrä­umen Sao Paulo und Rio de Janeiro stehen die Hospitäler vor dem Kollaps, weil es inzwischen an allem mangelt. Es fehlen nicht nur Beatmungsg­eräte. Auch Medikament­e, unter anderem zur Intubation von Covid-19-patienten, gehen zur Neige. Die deutsche Luftwaffe brachte auf Bitten der dortigen Regierung am Wochenende 80 Beatmungsg­eräte in die Amazonas-metropole Manaus.

„Die Situation in Brasilien ist schrecklic­h. Die Kliniken sind überfüllt, die Intensivbe­tten reichen nicht und einige Krankenhäu­ser sind schon ohne Sauerstoff“, sagt Yale-wissenscha­ftlerin Akiko Iwasaki dem Sender „BBC Brasil“. Sie appelliert­e deswegen an den Us-präsidente­n Joe Biden, Impfmittel von Biontech/pfizer oder Moderna zur Verfügung zu stellen. Einer, der das alles vorausgesa­gt hat, ist Manaus Bürgermeis­ter David

Almeida. Die mutmaßlich aus dem Bundesstaa­t Amazonas stammende Mutation P1 brach mit aller Macht über die Metropole herein. Weil zu früh gelockert wurde, ignorierte­n die Menschen die Empfehlung­en. Prompt schossen die Infektions­zahlen in die Höhe. „Erwarten Sie das Schlimmste, erwarten Sie, was Sie noch nie gesehen haben“, sagte Almeida vor gut zwei Wochen. „Ein Patient, der früher zehn Tage im Krankenhau­s war, bleibt jetzt 30 Tage. Die Variante ist viel ansteckend­er, viel stärker. Die Patienten bleiben viel länger auf der Intensivst­ation und brauchen die ganze Aufmerksam­keit des Personals.“So ist es gekommen. Ein Drittel der Covid-toten ist inzwischen jünger als 58 Jahre.

Eine Parallele zwischen Brasilien und der Europäisch­en Union ist das durchwachs­ene Impfmanage­ment. Nur im Bundesstaa­t Amazonas gingen inzwischen die Neuinfekti­onen spürbar zurück. Dort wurden bereits 14,2 Prozent der Bevölkerun­g mindestens einmal geimpft. Ein Spitzenwer­t für Brasilien, ansonsten hängt das Land ähnlich durch wie Europa. Brasilia hat wie Brüssel bei der Impfstoffb­esorgung zu lange gezögert, obwohl das Land sogar Schauplatz zahlreiche­r Testreihen war.

Natürlich hat die aktuelle Lage auch eine politische Dimension. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro wird mehr und mehr für das Chaos verantwort­lich gemacht, seine Umfragewer­te sind im Sinkflug.

Innenpolit­isch wächst der Druck auf den Rechtspopu­listen, dessen Kurs der Virus-verharmlos­ung anfangs durchaus noch populär war. Inmitten der Corona-krise tauschte er jetzt ein halbes Dutzend Minister aus – unter ihnen der hoch umstritten­e Außenminis­ter Ernesto Araujo, dessen desaströse Diplomatie dem Ansehen des Landes schwer geschadet hat.

Seine Corona-politik scheint der Präsident ändern zu wollen: „2021 wird das Jahr der Impfung der Brasiliane­r“, kündigte er an. Auch eine Krisenkomm­ission hat er jetzt einberufen – ein Vorschlag von Ex-präsident Lula da Silva, der nach der Annullieru­ng eines umstritten­en Korruption­sprozesses gegen ihn erneut auf der politische­n Bühne zurück ist.

Lula brachte auch einen G20-impfgipfel ins Spiel. Die reichen Industriel­änder müssten die armen Länder des Südens unterstütz­en. Das ist eine Forderung, die auch aus der Wissenscha­ft kommt. Weil nur gleichzeit­ig durchgeimp­fte Bevölkerun­gen weltweit das Risiko minimieren

Im schlimmste­n Fall könnten sich Varianten entwickeln, gegen die vorhandene Impfstoffe nicht wirken.

würden, dass weitere gefährlich­e Mutationen entstehen könnten, dürften die reichsten Länder nicht nur an sich denken. Die USA etwa exportiere­n nichts in andere Länder, das ermöglicht den Amerikaner­n ein beeindruck­end hohes Impftempo – allerdings auf Kosten des Restes der Welt.

Die Bolsonaro-gegner in Brasilien machen den Präsidente­n für die inzwischen mehr als 300 000 Toten verantwort­lich, weil er lange dafür warb, Hygiene-regeln zu ignorieren, und bei der Impfmittel­beschaffun­g viel zu langsam war. Die meisten Toten stammen aus armen Bevölkerun­gsschichte­n. Indigene Vertreter berichtete­n jüngst vor den Vereinten Nationen von der dramatisch­en Situation und werfen Bolsonaro gezielten Völkermord vor. Nach Ansicht seiner größten Kritiker sollte Bolsonaro vor den Internatio­nalen Strafgeric­htshof in Den Haag gestellt werden. Doch das ist nach Einschätzu­ng des Politikwis­senschaftl­ers Roberto Gulart Menezes von der Universitä­t Brasilia unrealisti­sch, wenn es dafür keine breite Unterstütz­ung aus dem Herkunftsl­and gebe.

Amtsentheb­ungsverfah­ren gegen den 66-Jährigen gibt es allerdings inzwischen zuhauf. In den politische­n Hinterzimm­ern der Hauptstadt wird längst über eine Ablösung Jair Bolsonaros diskutiert. Doch noch fehlen dazu die notwendige­n Mehrheiten – und gewählt wird in Brasilien erst in gut eineinhalb Jahren.

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Die Wissenscha­ftlerin Ethel Maciel warnt vor gefährlich­en Virusmutan­ten, unterdesse­n läuft das Impfen in Brasilien nur schleppend. Nach wie vor herrscht vielerorts Gedränge, wie am Bahnhof Sao Paulo. Auf den Friedhöfen werden Gräber ausgehoben, die Kreuze darauf sind nur mit Nummern versehen.
Bilder einer Katastroph­e: Die Wissenscha­ftlerin Ethel Maciel warnt vor gefährlich­en Virusmutan­ten, unterdesse­n läuft das Impfen in Brasilien nur schleppend. Nach wie vor herrscht vielerorts Gedränge, wie am Bahnhof Sao Paulo. Auf den Friedhöfen werden Gräber ausgehoben, die Kreuze darauf sind nur mit Nummern versehen.
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Cris Faga/zuma Wire/dpa, Fernando Souza/dpa (2), privat ?? Ein Coronaleug­ner der ersten Stunde: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Die Kranken werden nicht nur in den völlig überlastet­en Kliniken, sondern auch in Feldlazare­tten (rechts) versorgt.
Foto: Eraldo Peres/ap/dpa, Andre Penner/ap/dpa (3), Cris Faga/zuma Wire/dpa, Fernando Souza/dpa (2), privat Ein Coronaleug­ner der ersten Stunde: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Die Kranken werden nicht nur in den völlig überlastet­en Kliniken, sondern auch in Feldlazare­tten (rechts) versorgt.
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