An der Grenze
Steigende Inzidenz, Besucherflut, Kritik: Das Tübinger Modell steht unter Druck. Die Stadt will nun die Zügel anziehen – und Auswärtige abschrecken.
Der Weg vom Muster- zum Prügelknaben ist manchmal kurz. Vor zwei Wochen wurde das Tübinger Modell als Lichtblick im Dunkel der Corona-krise gefeiert. Nun steht es massiv unter Druck. Die Inzidenz steigt rapide, Bilder von Touristen-massen und feiernden Jugendlichen machen die Runde – und die Kritik von außen wächst. Auch in Tübingen werden die Töne nachdenklicher. Ist das Modell noch zu retten? Eine Bestandsaufnahme.
Das Projekt Die Idee klingt bestechend: Unter dem Motto „Öffnen mit Sicherheit” versucht Tübingen, Lockerungen mit Massentests zu verbinden, das Land hat den Modellversuch genehmigt. Seit 16. März gibt es in der Stadt vieles, was anderswo unmöglich ist: Shoppen ohne Anmeldung, geöffnete Außengastronomie, Theater, Kino. Wer rein will, muss zuerst einen Corona-schnelltest machen: Nur wer negativ ist, bekommt ein „Tagesticket“für Tübingen. Abstandsregeln und Maskenpflicht gelten trotzdem. Das von Drk-präsidentin Lisa Federle und OB Boris Palmer initiierte Projekt wird von bürgerlichem Engagement, vielen Freiwilligen und vom lokalen Handel getragen. Alles prima also?
Die Zahlen Nein. Vor allem steigende Inzidenzen trüben das Bild. Der Landkreis Tübingen hat die 100 bei der 7-Tage-inzidenz seit einigen Tagen überschritten und wird bald die „Notbremse” ziehen. Lag die Stadt lange stabil unter 35, schoss sie nun binnen Tagen auf 89,6 (Stand Mittwochabend). Kritiker bezeichnen das
Projekt als gescheitert. Man könne die dritte Welle durch Testen und Öffnungsstrategie nicht aufhalten, schreibt der Spd-gesundheitsexperte Karl Lauterbach auf Twitter. „Testen statt Lockdown ist Wunschdenken, genauso wie Abnehmen durch Essen.“Doch sind die Zahlen so eindeutig?
Die Tests Wer viel mehr testet, findet auch mehr Infektionen, argumentiert OB Palmer. „Wir haben letzte Woche an den Teststationen 30 Infizierte entdeckt, die völlig ohne Symptome waren, davon 18 aus der Stadt Tübingen”, sagt er. Allein diese Fälle, die sonst womöglich gar nicht aufgefallen wären, hätten die Stadt-inzidenz um 20 erhöht. In der Woche seien 50 000 Schnelltests durchgeführt worden, bei 90 000 Einwohnern sei das die zehnfache Test-dichte des Bundesschnitts. „Wir leuchten gerade das Dunkelfeld aus, das ist auch eine Chance”, sagt Palmer. Wenn man durch die Tests mehr Infektionsketten unterbrechen könne, als durch Lockerungen und zusätzliche Kontakte neu entstehen, sei das Modell ein Erfolg. Stimme die These, müsste sich die Inzidenz in den nächsten zwei Wochen aber beruhigen. Ausbrüche in Kitas und in der Landeserstaufnahme für schutzbedürftige Frauen und Kinder stehen laut Palmers Interpretation „nicht in Verbindung zum Modellversuch“.
Der Faktor Mensch Das Tübinger Modell war in allen Medien präsent, Kanzlerin Angela Merkel verwies darauf; ein Musikvideo jubelte: „Unser Leben ist jetzt und hier.“Die Pr-offensive blieb nicht ohne Folgen: Tagestouristen aus Nah und Fern strömten in die Stadt, Parkhäuser füllten sich, an Teststationen gab es lange Schlangen. Gleichzeitig ließen die lockere Atmosphäre und das gute Wetter die Hemmungen fallen – und die Unvernunft wuchs. Besucher gaben Tagestickets weiter oder versuchten andere Tricks, um Regeln zu umgehen, junge Leute machten Party in Parks und auf Plätzen. Die Pandemiebeauftragte Lisa Federle ist beunruhigt: „Das Pilotprojekt ist für die Tübinger gedacht, es soll kein Tourismusmagnet sein“, sagte sie dem „Schwäbischen Tagblatt“. „Die Idee war nicht, dass Auswärtige Tübingen stürmen.“Was sich derzeit an „Halligalli“in der Stadt abspiele, sei so medizinisch nicht mehr zu verantworten.
Die Gegenmittel Die Stadt will jetzt die Zügel anziehen, damit ihr das Modell nicht entgleitet. Ein Alkohol-ausschankverbot ab 20 Uhr und Konsumverbote sollen die Party-szene austrocknen. Denn wer zum Rumhängen am Neckarufer oder im Park nach Tübingen kommt, braucht dafür kein Tagesticket. Die Stadt ist auch Magnet für Menschen, die keinen Test machen. „Wir rüsten auch mit Personal nach, um die Regeln stärker zu kontrollieren“, sagt Palmer. Die Maskenpflicht wurde verschärft. Digitale Tickets sollen Missbrauch mit Tagespässen stoppen. Und: Von Donnerstag an gibt es keine Tickets für Auswärtige mehr. Die Botschaft an sie ist inzwischen: bleibt weg. Für weitere Maßnahmen wie etwa Testpflichten in Betrieben und Schulen wäre die Politik gefragt. „Eine nächtliche Ausgangssperre würde dem Modellversuch auch helfen“, sagt Palmer.
Der Abbruch Doch wann kommt der Punkt, an dem abgebrochen wird? Die aktuellen Infektionszahlen sind für Palmer dafür noch kein Grund. Die Zahlen der nächsten zwei Wochen seien entscheidend. Wenn der Anstieg in Tübingen stärker werde als der allgemeine im Land oder die Positivrate der Tests steige, werde es kritisch. „Wenn wir schlechter abschneiden als andere Kreise, müssen wir abbrechen“, sagt Palmer. Das Sozialministerium kündigte an, bei einer Inzidenz von 100 zu prüfen, ob es weitergeht. Und noch ein anderer Faktor kann laut Palmer wichtig werden: „Wenn wir die Kontrolle über die Organisation verlieren.“Aus Euphorie ist zum Teil Erschöpfung geworden. Der Druck auf Tübingen sei enorm: Neben Morddrohungen und Verleumdungen prasselten jeden Tag neue Ansprüche, Probleme und Regelverstöße ein, das alles belaste die Stadtverwaltung enorm. „Es sind alle an der Grenze“, sagt Palmer.