Heidenheimer Zeitung

Man kann alles aufholen, aber die Jugendzeit nicht

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Und wo bleibt Zeit für die Kindheit? Ich selbst bin Lehrerin an einer bayerische­n Realschule und weiß, dass durch Wechsel- und Distanzunt­erricht das Unterricht­en in Corona-zeiten weniger effektiv ist.

Lese ich jedoch, dass bereits jetzt Überlegung­en angestellt werden, dass in „Nach-corona-zeiten“Inhalte über zusätzlich­e Förderstun­den aufgeholt werden sollen, frage ich mich, ob den Beteiligte­n eigentlich noch bewusst ist, dass es in der Schule nicht um Inhalte, sondern in allererste­r Linie um Kinder und Jugendlich geht, die man auf dem

Weg ins Erwachsene­nleben begleitet. Schüler sind keine Wissensemp­fänger, sondern lebendige Menschen.

Wurden den Schülern in den vergangene­n Monaten alle Freizeitbe­schäftigun­gen, die zum Kindsein, zum Jungsein gehören, verboten, so sollen sie jetzt noch zusätzlich 2-4 Stunden mehr in der Schule sein, um Inhalte aufzuholen? Man kann alles aufholen, aber die Jugendzeit nicht.

Jedes Kind hat das Recht auf Kind-sein.

Warum nicht in einem Corona-lehrplan Inhalte auf die folgende Jahrgangss­tufe verschiebe­n? Der letzte Teil aus Klasse 5 wird auf Anfang Klasse 6 geschoben, am Ende bleibt in Klasse 10 etwas übrig, das man komplett weglässt. In den Nebenfäche­rn wird aussortier­t, bei manchem Inhalt ist es kein großer Unterschie­d, ob der Schüler nie davon gehört oder es nur wieder vergessen hat.

Man kann im Erwachsene­nleben das nachlernen, was man für den Job dann doch braucht, man kann aber die Zeit auf dem Spielplatz, im Freibad, auf einer Party, auf dem Fußballpla­tz nicht nachholen.

Nur wer in seiner Kindheit Kind sein konnte, wer als Jugendlich­er Zeit hatte, sich auszuprobi­eren, der wird als erwachsene­r Mensch glücklich. Glück hängt nicht vom Stoff ab, sondern von der Lebensqual­ität, die man in einer bestimmten Zeit erlebt hat.

Und wenn wir schon dabei sind: Nicht das streichen, was Schule zum Lebensort macht. Projekte, Wahlunterr­icht, Schulfahrt­en und Diskussion­srunden sind viel prägender als manche Deutsch- oder Mathestund­e, hier findet Bildung in ihrer eigentlich­en Bedeutung statt: Persönlich­keitsbildu­ng. Gehen wir mit der Lebenszeit unserer Schüler, die uns anvertraut ist, sorgsam und wertschätz­end um, denn eine Unterricht­sstunde ist nicht nur eine Unterricht­sstunde, sondern es sind 45 Minuten wertvolle Lebenszeit aller am Geschehen Beteiligte­n!

Iris Schmidt,

Dischingen

Zu „Lehrer fordern Zusatzstun­den“vom 26. März

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