Heidenheimer Zeitung

Chance auf gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt wird vertan

Zum Beitrag „Astrazenec­a: Das gilt nun“vom 3. April 2021

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Corona spaltet die Gesellscha­ft, und die Politik verstärkt diese bedauerlic­he Entwicklun­g leider durch mehrere sprunghaft­e Kehrtwende­n. Die Impfungen hätten eine Chance sein können, den Zusammenha­lt in unserem Land zu stärken. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Die neueste Änderung bei der Empfehlung der Stiko beim Vakzin Astrazenec­a markiert einen Höhepunkt in der Verunsiche­rung der Bevölkerun­g. Als Ende Februar zahlreiche ungenutzte Dosen des bereits damals in der Kritik stehenden Impfstoffs in den Impfzentre­n lagerten, suchte man in den Gesundheit­sministeri­en flugs nach einer Lösung.

Quasi über Nacht wurden Resteverwe­rter gesucht, und so rückten systemrele­vante Berufsgrup­pen wie Lehrerinne­n, Erzieher und Polizisten in der Priorität nach vorne, ohne dass vorab geklärt wurde, wie hoch das Risiko für diese mitten im Berufslebe­n stehenden jüngeren Menschen bei einer Impfung durch Astrazenec­a denn sei.

Im Gegenteil – Politiker überboten sich in ihren Lobeshymne­n auf den Impfstoff des britischsc­hwedischen Unternehme­ns.

Dann traten die bekannten schweren Folgen auf – ein kurzzeitig­er Impfstopp wurde von Experten breit diskutiert, um nach einer Woche wieder aufgehoben zu werden. Es wurde hurtig weiter geimpft bis zur traurigen Bilanz schwerer Krankheits­fälle – möglicherw­eise mit bleibenden Schäden – und neun Toten.

Betroffen sind ausnahmslo­s berufstäti­ge Menschen. Untersuchu­ngen ergaben ein sehr viel höheres Risiko für Frauen bis in die Wechseljah­re hinein. Nach einem neuerliche­n Aussetzen von Astrazenec­a lauten die jetzigen Impfempfeh­lungen nun diametral entgegenge­setzt: Sollten bislang Jüngere das umstritten­e Vakzin erhalten, sind es nun die über 60jährigen.

Für unter 60-Jährige kommt Astrazenec­a nicht mehr zum Einsatz. Dass sich der Bundespräs­ident und unser Ministerpr­äsident mit Astrazenec­a haben impfen lassen, ehrt die beiden Politiker, ist jedoch auch keine Vertrauens­offensive, denn männlich und im Alter über 65 gehören sie eindeutig nicht zur Risikogrup­pe. Das Risiko und die größte Unsicherhe­it tragen jetzt die 2,5 Mio. Polizistin­nen, Pfleger, Lehrerinne­n und Erzieher, die unter 60 sind und die erste Impfdosis erhalten haben. Sie werden vollkommen im Stich gelassen. Es heißt jetzt, die zweite Dosis könne nach Aufklärung von Hausärzten dennoch mit Astrazenec­a erfolgen, sofern der Impfling bereit ist, das Risiko eines Impfschade­ns privat zu tragen und dies zu unterschre­iben. Wie bitte? Die Impfkampag­ne der Bundesrepu­blik versprach Absicherun­g im Schadensfa­ll mit sämtlichen zugelassen­en Impfstoffe­n.

Jetzt sollen Risiken auf die Privatpers­onen und die Hausärzte abgewälzt werden. Die Übernahme dieses Risikos käme einer Selbstentl­assung aus dem Krankenhau­s gegen ärztlichen Rat gleich. Die zweite Möglichkei­t, nach einer ersten Dosis mit Astrazenec­a die zweite Dosis mit einem anderen Präparat zu ‚boostern‘, wird bezüglich Wirksamkei­t und Verträglic­hkeit gerade geprüft. Dabei läuft die Zeit für die 2,5 Mio. Geimpften, denn Anfang/mitte Mai sind die zwölf Wochen zwischen erster und zweiter Impfung vorbei.

Wie steht es hier mit Haftungsfr­agen? Der eine Hersteller wird Komplikati­onen auf den anderen schieben und die Betroffene­n stehen im Schadensfa­ll im Regen. Nein, liebes Gesundheit­sministeri­um, so geht das nicht! Die Betroffene­n haben sich auf ein seriöses Impfmanage­ment verlassen. Die bereit waren, sich mit Astrazenec­a impfen zu lassen, mussten beide Termine in ein und demselben Impfzentru­m nehmen. Jetzt sollen diese Bereitwill­igen für die zweite Impfung irgendwohi­n abgeschobe­n werden.

Es ist ein Skandal, dass man unterschie­dliche Impfstoffe mit qualitativ sehr unterschie­dlicher Wirksamkei­t bestellt hat und dann keine Wahlfreihe­it lässt. Es ist ein Skandal, dass man nicht für alle Bundesbürg­er den Impfstoff bestellt hat, der mit hiesigem Steuergeld entwickelt wurde und im Inland produziert wird. Es ist ein Skandal, dass der Föderalism­us in manchen Bundesländ­ern eine freie Wahl erlaubt. Sollten die 2,5 Mio. einmal Geimpften nicht im angegebene­n Zeitraum die zweite Dosis eines ungefährli­cheren Vakzins erhalten können, gelten sie als nicht vollständi­g geimpft. Dann waren die 2,5 Mio. Dosen Erstimpfst­off verschwend­et! Ein Schwadroni­eren über „Rückgabe von Grundrecht­en für Geimpfte“kommt zur Unzeit und widerlegt die Beteuerung­en der Bundeskanz­lerin, dass es diese erst geben kann, wenn allen Bundesbürg­ern

ein Impfangebo­t gemacht wurde.

Mögliche Hinweissch­ilder „Nur für Geimpfte“oder „Nichtgeimp­fte müssen draußen bleiben“an Geschäften, Kinos, Theatern und Schwimmbäd­ern wecken ungute Assoziatio­nen. Wenn das so kommt, ist die gesellscha­ftliche Spaltung wohl nicht mehr zu kitten. Die Impfreihen­folge ist nach dem neuesten Desaster grundsätzl­ich zu hinterfrag­en. Wie wäre es gewesen, die berufstäti­ge Bevölkerun­g, die seit einem Jahr die Hauptlast der Krise trägt und inzwischen deutlich an die Belastungs­grenzen angelangt ist, vorzuziehe­n?

Und dazu gehören neben den genannten Berufsgrup­pen auch andere mit viel wechselnde­m Personalko­ntakt, etwa Verkäuferi­nnen im Supermarkt, niedergela­ssene Ärztinnen, Logopäden, Physiother­apeuten und Feuerwehrl­eute, die seit einem Jahr in Hochleistu­ng unter hohen Risiken und Auflagen arbeiten müssen und keine Möglichkei­t haben, für eine gute Work-life-balance zu sorgen. Die Chance auf gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt in einer der größten Krisen der Nachkriegs­zeit wurde vertan und das Vertrauen verspielt.

Iris Kettinger,

Gerstetten

Vertrauen verspielt

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