Nächtliche Zwangspause?
Der Bund will Ausgangsbeschränkungen ab 21 Uhr vorschreiben. Hilft das im Kampf gegen Corona?
Pro Ulrike Sosalla Nachrichtenchefin
Nun also Ausgangsbeschränkungen: Im Minimalkatalog, den der Bund den zerstrittenen Ländern mit dem neuen Pandemie-gesetz vorschreiben will, ist ausgerechnet das umstrittenste Instrument aus dem Werkzeugkasten der Kontaktstopper enthalten, nämlich die Verpflichtung, abends und nachts zu Hause zu bleiben – und das ist gut so.
Dass die Bundesregierung zu diesem Mittel greift, liegt vor allem daran, dass es in einigen anderen Ländern gute Ergebnisse gebracht hat: In Portugal und Großbritannien etwa. Auch Frankreich hat in den meisten Regionen derzeit ein nächtliches Daheim-bleibe-gebot, denn auch dort lastet die dritte Welle schwer auf den Krankenhäusern und den ohnehin bereits ausgelaugten Pflegekräften.
Die Wirkung, die es nachweislich gibt, entsteht nicht dadurch, dass Nacht-jogger und Freizeitjäger jetzt auf ihr Hobby verzichten müssen, wie häufig beklagt wird, sondern einfach dadurch, dass recht viele Menschen, die nach 21 Uhr unterwegs sind, zu privaten Feiern wollen oder von dort kommen. Die Hürde dafür liegt höher, wenn man jederzeit mit einer Kontrolle rechnen muss. Und ganz gleich, was Verfechter des Landlebens sagen: Ein mitunter sehr munteres privates Treiben gibt es auch in Kleinstädten und Dörfern.
Natürlich bleiben Ausgangsbeschränkungen trotzdem ein schwerer Eingriff in das Leben jedes Einzelnen. Sie sollten deshalb so kurz wie möglich gelten, indem die Inzidenzen schnell unter 100 gedrückt werden. Dafür reichen Ausgangsbeschränkungen allein nicht. Eine strengere Pflicht zum Homeoffice, eine konsequente Teststrategie und Maskentragen in Innenräumen gehören genauso dazu.
Contra Igor Steine Berlin-korrespondent
Eines der Rätsel dieser Pandemie sind die Ansteckungsorte der Corona-infizierten. Die sind auch deshalb so mysteriös, weil sich die Bundesregierung nie die Mühe gemacht hat, hier Licht ins Dunkel zu bringen, etwa mit einer groß angelegten Kohortenstudie oder einfach nur der Erhebung des Arbeitsortes von Erkrankten, um wenigstens Risikoberufe auszumachen.
Dennoch scheint man in Berlin genau zu wissen, dass derart viele Menschen mit Wohnungspartys oder sonstigen Ansammlungen gegen die Auflagen verstoßen und die Pandemie damit maßgeblich vorantreiben, dass grundsätzlich allen Bürgern nachts der Ausgang verboten werden muss. Das verstößt nicht nur gegen das Rechtsgebot der Verhältnismäßigkeit. Es ist auch kontraproduktiv im Kampf gegen das Coronavirus.
Denn die vornehmlich jungen Menschen, auf die es die Regierung abgesehen hat, werden sich nicht „Bleib ich halt zu Hause“denken, sondern, ihrem biologischen Programm folgend, bei anderen jungen Menschen übernachten oder bis in die Puppen aufbleiben. Das kann man kritisieren, oder sich einfach selbst daran erinnern, wie es war, jung zu sein.
Dabei ließen sich Ansteckungen leicht verhindern. In den kommenden Wochen werden die Temperaturen steigen. Menschen, die sich bisher in Wohnungen getroffen haben, könnten in Parks, Biergärten oder wohin auch immer ausweichen. Dass das zu begrüßen wäre, darauf haben Aerosolforscher erst in diesen Tagen mit Nachdruck hingewiesen: So gut wie keine Infektionen würden draußen erfolgen. Angesichts dieser Tatsache den Gang auf die Straße zu verbieten ist Symbolpolitik gegen jede wissenschaftliche Evidenz.