„Besser als die Notbremse“
Gescheitert oder ein voller Erfolg? Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer erklärt im Interview, wie das Modellprojekt der Stadt funktioniert und unter welchen Umständen es fortgesetzt werde.
Das Tübinger Modellprojekt endet offiziell am 18. April. Die Stadt hat nun eine Verlängerung beantragt. Oberbürgermeister Boris Palmer erklärt, warum er das Projekt als vollen Erfolg sieht.
Herr Palmer, viele Politiker und Medien haben das Tübinger Modellprojekt für gescheitert erklärt. Wie sehen Sie das?
Boris Palmer:
Der Bericht der wissenschaftlichen Begleitforschung unter Leitung von Professor Peter Kremsner zeigt ganz klar, wir sind erfolgreich. Wir haben in der Stadt nur 60 Prozent der durchschnittlichen Landesinzidenz und die Zahlen sind seit zwei Wochen stabil. Dies gilt für die Inzidenz und für die Testpositivrate. Kurz gesagt, unser Modell des flächendeckenden Testens bringt die Pandemie derzeit besser unter Kontrolle als die Notbremse.
Sie sagen, die Testpositivrate blieb über den Versuchszeitraum stabil bei 1:1000. In der ersten Woche war sie aber bei 1:534, also doppelt so hoch. Auch vergangene Woche war sie mit 1:728 deutlich höher.
Die wissenschaftliche Begleitforschung wird neben Professor Kremsner und Lisa Federle auch von Professor Peter Martus durchgeführt. Er ist Statistik-experte und sein Blick auf die Zahlen zeigt, wir haben normale Schwankungen nach oben und unten, oder erklärbare Sondereffekte, wie zum Beispiel eine größere Gruppe Auswärtiger, die in der Station positiv getestet wurden. Oder aber Fehler bei der Handhabung der Tests, was den größten Ausschlag bewirkt hat.
Das Modellprojekt endet am Sonntag. Bis wann entscheidet sich, ob es verlängert wird?
Gute Frage. Wenn der Bundestag das Infektionsschutzgesetz so beschließt, wie es im Entwurf vorliegt, dann endet das Projekt auf jeden Fall, wenn das Gesetz in Kraft tritt. Das wäre Ende nächster Woche. Weil dann die Inzidenz des Landkreises die Stadt in die Notbremse zwingen würde. Obwohl wir selbst, Stand heute, deutlich drunter sind, und ich die Hoffnung habe, dass wir die Zahlen mit unserem Konzept noch weiter drücken können. Ob es noch eine Ausnahme für Modellversuche geben wird, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen.
Für die Einzelhändler wäre es eine wichtige Frage, ob sie am Montag öffnen dürfen. Ist das bis dahin geklärt?
Leider nimmt die Gesetzgebung im Bund nicht so arg Rücksicht auf die Bedürfnisse der Tübinger Einzelhändler oder Kulturschaffenden. Ich kann Ihnen jetzt keine bessere Antwort geben als die, dass es sich im Wesentlichen daran entscheidet, ob der Bund den Ländern die Freiheit lässt, Modellversuche weiterzuführen.
Nehmen wir mal an, das Modellprojekt wird weiter genehmigt. Welche Neuerungen soll es geben?
Wir haben ja einiges gelernt in diesen fünf Wochen, die wir den Versuch jetzt machen durften. Vor allem, dass die Tests genau genug sind, um sie zum Zweck des flächendeckenden Testens einzusetzen, dass die Zahl der falschpositiven Ergebnisse gering bleibt und dass wir die Inzidenz damit unter Kontrolle halten können. Wir haben aber auch gelernt, dass es nur funktioniert, wenn wir verhindern, dass auswärtige Tagestouristen in großer Zahl zu uns kommen. Deshalb soll die Begrenzung auf die Kreisbewohner bleiben.
Gleichzeitig haben wir gelernt, dass der Handel ohne die Gastronomie nicht ausreichend viele Kunden bekommt und die Umsätze sehr stark zurückgehen. Der Empfehlung von Lisa Federle und den Professoren Kremsner und
Martus, die Außengastronomie wieder zu öffnen, weil sie kein relevantes Infektionsrisiko darstellt, würde ich daher gerne nachkommen. Allerdings mit der Luca-app für die Kontaktverfolgung. Dann glaube ich, dass wir zusammen mit der Testpflicht für Schulen, Kitas und Betriebe tatsächlich so viel testen würden, dass die Infektionszahlen immer weiter fallen.
Unter welchen Umständen würden Sie das Modellprojekt abbrechen?
Ich sehe als Abbruchkriterium die Testpositivrate, wenn also die Zahl der Infizierten messbar steigen würde. Weil das aber schwierig
Ohne die Gastronomie bekommt der Handel nicht ausreichend viele Kunden.
zu kommunizieren ist, habe ich vorgeschlagen, dass wir uns an der Inzidenz messen lassen, aber dann an der vergleichbaren Inzidenz. Das heißt, eine gemessene Inzidenz von 125 wäre ein vernünftiges Abbruchkriterium für die Stadt Tübingen.
Wie kommen Sie auf den vergleichbaren Inzidenzwert von 125?
Wir wissen mittlerweile, wie viele Fälle wir nur finden, weil wir so viel testen, und zwar Personen, die gar keine messbaren Symptome haben und die in der Statistik nicht auftauchen würden. Daraus lässt sich errechnen, dass wir mindestens 25 Prozent mehr finden, als die, die weniger testen. Wer viel testet, findet viel. Den Effekt kann man berechnen. Dadurch kommt man auf die vergleichbare Inzidenz. Das soll aber nur Verlässlichkeit schaffen, das Ziel ist natürlich, die Infektionszahlen schnell zu senken.