Die Logik des Kremls
Es riecht brenzlig. Täglich tauchen im Internet neue Smartphone-videos von russischen Panzern oder Raketenwerfern auf, die an der ukrainischen Grenze herumkurven. Die Ukrainer sprechen von je 40 000 Mann, die Russland an seiner Westgrenze zur Ukraine und auf der annektierten Krim versammelt hat. Die Osze-beobachtermission berichtet wieder von über täglich tausend Waffenstillstandsverstößen an der Frontlinie im Donbass.
Die Gefahr eines Krieges hängt in der Luft. Seit Wochen warnen Moskaus Staatsmedien vor einer ukrainischen Revanche-offensive gegen die Rebellenrepubliken. Vor einigen Tagen starb dort ein Jugendlicher durch eine Mine, die eine ukrainische Kampfdrohne abgeworfen haben soll. Aber wenn die Ukrainer wirklich einen „Blitzkrieg“nach dem Vorbild der Aserbaidschaner in Berg Karabach planten, wären solche spektakulären Gemeinheiten völlig kontraproduktiv.
In Kiew gilt es seit den verlorenen Kesselschlachten von Ilowajsk 2014 und Debalzewo 2015 als traurige Wahrheit, dass angesichts der zahlenmäßigen und waffentechnischen Überlegenheit Russlands jeder „Blitzkrieg“nur blutig scheitern kann. Im Gegensatz zu dem russischen Feldzug gegen die Ukraine, den der Rest der Welt im Moment befürchtet.
Us-diplomaten und Eu-parlamentarier halten es für möglich, dass russische Panzertruppen unter der Fahne der Rebellen Offensiven auf ukrainische Etappenstädte, etwa Kramatorsk oder Mariupol, vorantreiben, wie 2014/15. Und dass Moskau den Moment nutzen könnte, um mit einem Vorstoß von der Krim die Dnjepr-mündung des Nordkrimkanals unter seine Kontrolle zu bringen. Damit würden die Russen den Wassermangel auf der Halbinsel beseitigen.
Außerdem hätte Wladimir Putin innenpolitisch durchaus Grund, seiner ermüdeten Wählerschaft vor den Parlamentswahlen im September neue imperiale Erfolge zu verschaffen.
Aber viele Ukrainer glauben, der Kreml bluffe nur. Freiwillige an der Front verweisen darauf, dass die russischen Panzerfahrzeuge, die jetzt an der Grenze manövrieren, nicht von den Versorgungskolonnen begleitet werden, die für eine große Angriffsoperation nötig wären. Und bei einem breiten Vormarsch im Donbass müssten Putins Truppen wohl die oberste taktische Regel der russischen Militärs in der Ostukraine über den Haufen
Bei einer Offensive liefe Russland Gefahr, krasser denn je als Aggressor dazustehen.
werfen: „Wir sind ja gar nicht da.“Während der Kämpfe 2014 und 2015 tarnten sich die Russen als ukrainische Rebellen. Jetzt wäre das kaum noch möglich, schon gar nicht bei einem Vorstoß von der zum eigenen Staatsgebiet erklärten Krim.
Russland liefe Gefahr, krasser denn je als Aggressor dazustehen. Außerdem könnten die USA die ukrainischen Truppen diesmal ebenfalls mehr oder weniger verdeckt, aber massiv unterstützen. Und Putin würde kurz vor ihrer Fertigstellung die Gaspipeline Nord Stream 2 riskieren, das letzte große russisch-europäische Projekt. Russlands Angriff auf die Ukraine wäre unlogisch. Allerdings: Putin hat sich bei seinen Entscheidungen in den vergangenen Jahren keineswegs immer an die Logik gehalten.