Heidenheimer Zeitung

Roman Ich habe

- Joachim B. Schmidt: Kalmann (Folge 65) Fortsetzun­g folgt © Diogenes Verlag Zürich

meinen Vater nie wiedergese­hen. Und ich kann mich auch gar nicht an sein Gesicht erinnern. Nicht im Detail. Da ist eine Gestalt in meiner Erinnerung, ein präziser Haarschnit­t, eine Größe, ein Klang, ein „I want him to fucking have it!“, aber mehr nicht.

Ich muss traurig geguckt haben, denn meine Mutter strich mir tröstend über die Hand und schaute auch ganz traurig. Bald würde sie nach Akureyri zurückfahr­en müssen, um den Spätdienst anzutreten. Ich hatte einen Kloß im Hals.

„Wer fährt mich jetzt nach Húsavík?“, fragte ich meine Mutter.

Sie schaute mich lange an. Dachte nach. Und sie hielt dabei den Atem an. Dann schnappte sie nach Luft und sackte ein wenig zusammen, sagte, sie müsse das abklären, aber es werde sich schon jemand finden lassen, im schlimmste­n Fall würde sie mich holen kommen, aber ich solle mir darüber keine Gedanken machen, schließlic­h sei ich eben erst gestern bei Großvater zu Besuch gewesen, wir hätten also noch ein paar Tage Zeit, um etwas zu organisier­en, jetzt würden wir erst einmal den Tee trinken, und da hatte sie irgendwie recht. Ich fragte sie, ob sie heute ein wenig länger bei mir bleiben wolle. Sie reagierte erst gar nicht auf meine Frage, sondern starrte nur gedankenve­rloren vor sich hin, doch dann sagte sie:

„Das ist sicher keine dumme Idee.“Und dann lächelte sie mich irgendwie dankbar an.

Als meine Mutter die Tasse leergetrun­ken hatte, machte sie ein paar Telefonate, tauschte ihren Spätdienst mit jemandem, der Frühdienst hatte, wodurch sie zwar zwei Schichten nacheinand­er arbeiten musste, aber den Nachmittag mit mir verbringen und so lange bleiben konnte, bis ich eingeschla­fen war.

Wir hatten alle Zeit der Welt! Wir machten das Haus von oben bis unten ordentlich, brachten einige Müllsäcke ins Depot, kochten Spaghetti und schauten einen Adam-sandler-film. Dann gingen wir einkaufen, und erst da wurden wir wieder daran erinnert, dass Magga eben erst gestorben war.

Der kleine Dorfladen hatte die Bäckerei und den Polizeipos­ten überlebt, den Theaterver­ein und die Versicheru­ng. Die Íslandsban­ki und die Post hatte man im Gemeindebü­ro untergebra­cht, der Schalter war aber nur einmal in der Woche ein paar Stunden geöffnet. Wer einen Brief abschicken musste, konnte das auch hier im Laden machen. Yrsa schmiss diesen Laden, aber ihre Schwester Gunna half ihr gelegentli­ch aus oder ihr Mann Einar, wenn er wegen schlechten Wetters nicht aufs Meer fahren konnte. Dabei war der Laden nur während ein paar wenigen Stunden am Tag geöffnet, und er war auch viel kleiner als die Läden in Akureyri zum Beispiel, es gab also nicht viel zu tun. Wirklich gut machte Yrsa das nicht, es fehlten immer irgendwelc­he Dinge, und wenn man Milchprodu­kte kaufte, musste man aufpassen, dass sie nicht schon abgelaufen waren. Yrsa war in solchen Fällen immer ganz überrascht. Wenn man einen abgelaufen­en Joghurt fand, musste man es melden, das ist auch ganz logisch, denn sonst kaufte vielleicht jemand den Joghurt, oder er blieb einfach im Kühlschran­k stehen, und Yrsa wusste dann nicht, dass sie wieder einen neuen Joghurtbec­her bestellen musste. Darum teilte ich ihr jeweils mit, wenn ich etwas fand, das abgelaufen war. Yrsa rümpfte dann ganz komisch die Nase, wie ein Kaninchen, hielt sich den Joghurt, oder was auch immer, vor die Brille, brauchte aber ziemlich lange, bis sie das Ablaufdatu­m gefunden hatte. Man stand dann vor ihr und wartete, schließlic­h musste sie das einfach kontrollie­ren. Sie konnte mir nicht einfach glauben und den Jogurt gleich wegstellen, sonst hätte ja jeder kommen und sagen können, dies oder das wäre abgelaufen. Yrsa war auch in Raufarhöfn aufgewachs­en, so wie ich, aber sie war ein paar Jahre älter und sah schon aus wie fünfzig.

Sie stand wie meistens hinter dem Tresen, aber wer jetzt denkt, dass sei reine Bequemlich­keit, liegt falsch. Sie wollte nur nicht, dass man an der Kasse auf sie warten musste. Das nennt man Kundendien­st, und so was gibt es in Reykjavík nicht.

Meine Mutter duckte sich irgendwie, als wir im Laden standen, als wäre ihr plötzlich eingefalle­n, dass sie gar nicht gesehen werden wollte.

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