Heidenheimer Zeitung

Der Flächenfra­ß-paragraph

Der Landesnatu­rschutzver­band warnt nach schlechten Erfahrunge­n davor, die erleichter­te Bebauung am Ortsrand wieder per Gesetz zu ermögliche­n.

- Von Raimund Weible

Gerhard Maluck schaut über eine Reihe von neuen Einfamilie­nhäusern hinweg ins Schussenta­l. „Das ist der klassische Fall“, sagt der pensionier­te Forstdirek­tor aus Bergatreut­e (Kreis Ravensburg). Die lockere Bebauung grenzt an einen Grünzug an, der vom Altdorfer Wald im Osten bis zu den Höhen jenseits der Schussen reicht. „Geigensack“ist der Name dieses Baugebiets am nordwestli­chen Rand der Gemeinde Baindt, ein Ort mit etwas über 5000 Einwohnern im Kreis Ravensburg.

Gebaut wurde der Geigensack nach den Regeln des Paragraphe­n 13b des Bundesbaug­esetzes. Das bedeutet privilegie­rtes Bauen. Der Paragraph wurde geschaffen, um die Bebauungsp­lanverfahr­en zu beschleuni­gen, als Soforthilf­e gegen die Wohnungsno­t. Die 2017 in Kraft getretene und Ende 2019 ausgelaufe­ne Regelung erlaubte den Kommunen, bis zu vier Hektar große Bebauungsp­läne für Wohngebiet­e am Ortsrand ohne formelle Umweltprüf­ung, ohne ökologisch­en Ausgleich und mit reduzierte­r Bürgerbete­iligung auszuweise­n.

Gedacht war dies für die Ballungsre­gionen mit großem Mangel an Wohnungen und hohen Mieten. Vorgesehen war, den raren Baugrund effektiv auszunutze­n. Es sollten rasch Mehrfamili­enhäuser entstehen, damit viele Menschen eine Wohnung finden. Doch in der Hauptsache wurde der Paragraph 13b in ländlichen Gebieten angewandt.

Beispielsw­eise in Baindt. Dort trieb man die Sache auf die Spitze. Der Geigensack ist nur eines von sechs 13b-baugebiete­n. Auf der anderen Straßensei­te, in südöstlich­er Richtung, ist auf 4,7

Hektar Grünfläche und Acker ein Wohngebiet namens „Bühl“mit lockerer Bebauung ausgewiese­n, ebenfalls in aussichtsr­eicher Lage. Einfamilie­nhäuser entstehen oder entstanden auch auf vier anderen Arealen. „Baindt dehnt sich nach allen Richtungen aus“, sagt Maluck. Der Forstmann gehört dem Landesnatu­rschutzver­band (LNV) an.

Vorsitzend­er des LNV

Als der Gemeindera­t von Baindt am 3. Dezember 2019, also kurz vor Toresschlu­ss, den Aufstellun­gsbeschlus­s für das Baugebiet „Lilienstra­ße“fasste, richtete das Regierungs­präsidium Tübingen einen geharnisch­ten Brief an das planende Büro Sieber in Lindau. Da nunmehr der sechste Bebauungsp­lan im beschleuni­gten Verfahren auf den Weg gebracht werden soll, heißt es in dem Schreiben, habe die höhere Raumordnun­gsbehörde Zweifel, „ob ein solches Vorgehen noch der Intention des Gesetzgebe­rs bei der Einführung des § 13b in das Baugesetzb­uch entspricht“.

Das Instrument der beschleuni­gten Planung dürfe nicht zur vorsorglic­hen Ausweisung von neuen Baugebiete­n führen, insbesonde­re vor dem Hintergrun­d, dass in Baindt kaum ein dringender Wohnraumbe­darf bestehe, formuliert­e die Behörde weiter. „Ein verantwort­ungsvoller Umgang der Gemeinden mit dem Instrument ist aus unserer Sicht unabdingba­r“, heißt es. Das Schreiben blieb aber ohne Folgen.

„Es wurden nach Gusto neue Baugebiete geschaffen“, wettert der LNV. So sei Oberschwab­en, wie der Lnv-vorsitzend­e Gerhard Bronner sagt, ein „Hotspot des Flächenver­brauchs“geworden. Aber auch in anderen ländlichen Gebieten werde der „Flächenfra­ß-paragraph“angewandt, etwa in Walddorfhä­slach (Kreis Reutlingen) oder Haigerloch (Zollernalb­kreis). Mühlingen im Landkreis Konstanz mit gerade 2500 Einwohnern wies wie Baindt sechs Baugebiete nach dem vereinfach­ten Verfahren aus, „ein weiteres

Bronner.

„Nachweis des Bedarfs? Fehlanzeig­e!“bemängelt der LNV. Der Nachhaltig­keitsstrat­egie zufolge müsste in Baden-württember­g der Flächenver­brauch auf maximal drei Hektar pro Tag begrenzt bleiben. Tatsächlic­h werden pro Tag fünf Hektar versiegelt. „Diese Fehlentwic­klung“, so Bronner, „würde sich bei der Neueinführ­ung des Paragraphe­n 13b noch beschleuni­gen.“

Tatsächlic­h hat die Union im Bundestag vor, den 13b wieder aufleben zu lassen. Die Bundesregi­erung präsentier­te im Herbst 2020 einen Entwurf für das Baulandmob­ilisierung­sgesetz, in dem die Regelung wieder aufgenomme­n worden ist. Die grün-schwarze Landesregi­erung stellte sich nicht ausdrückli­ch dagegen, wohl aus Gründen des Koalitions­friedens, denn Wohnungsba­uministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-kraut (CDU) macht sich stark für den 13b. „Die Rückmeldun­gen der Städte und Gemeinden im Land bestätigte­n den großen Mehrwert des Instrument­s“, heißt es aus ihrem Haus. Es leiste einen wichtigen Beitrag dazu, „schnell dringend benötigten Wohnraum zu schaffen“, sagte Hoffmeiste­r-kraut. Sie ist überzeugt davon, dass die Kommunen weiter verantwort­ungsvoll davon Gebrauch machen würden.

Bei der ersten Beratung im Bundesrat enthielt sich das Land der Stimme. Nach einer Experten-anhörung im Februar stehen nun der jeweils zweite Durchgang in Bundesrat und Bundestag an. Der LNV hätte sich mehr Widerstand der Landesregi­erung gewünscht: Durch die lasche Haltung werde auf grobe Weise gegen grüne Beschlüsse verstoßen.

Extrembeis­piel“,

sagt

Oberschwab­en ist ein

Hotspot des Flächenver­brauchs geworden.

Gerhard Bronner

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