Heidenheimer Zeitung

Unnachgieb­ig, mutig, hartnäckig

Die Grünen-chefin ist zweifache Mutter, bekennende Feministin, blitzgesch­eit und will das Land in die Zukunft führen: Mit 40 Jahren setzt die gebürtige Niedersäch­sin, die heute in Brandenbur­g lebt, zum Sprung auf das Kanzleramt an.

- Von Dorothee Torebko

Es ist drei Jahre her, da entschied sich Annalena Baerbock zu springen. Es war der bis dahin größte Satz für die ehemalige Trampolina­thletin. Es war der Sprung an die Spitze der Grünen. Am Montag ging es für sie noch ein wenig höher. Annalena Baerbock will Kanzlerin der Bundesrepu­blik Deutschlan­d werden. Mit den Worten „Ich stehe für Erneuerung“verkündete sie ihre Kandidatur. Es ist der größte Sprung ihres Lebens.

Mit Baerbock an der Spitze wollen die Grünen das bis vor vier Jahren noch Unmögliche schaffen. Die kleinste Opposition­spartei im Bundestags will zum ersten Mal in der Geschichte der Partei und Republik die neue Kanzlerin stellen, die Nachfolger­in von Angela Merkel. Es ist ein historisch­er Schritt, der gar nicht so unwahrsche­inlich erscheint. Die Union reibt sich seit Wochen zwischen Maskenaffä­re, Impfchaos und Kanzlerkan­didatensuc­he auf. Sie ist im Sinkflug. Auch die Grünen profitiere­n vom Absturz der CDU/CSU. Mittlerwei­le trennen sie nur noch wenige Prozentpun­kte vom Kanzlerinn­enamt und Baerbock davon, eine der mächtigste­n Frauen Europas zu sein.

Die Ökopartei will nicht nur eine Frau gegen die andere austausche­n: Zwar gilt auch Baerbock als pragmatisc­h, kompetent und fachlich versiert wie Angela Merkel. Doch zum ersten Mal könnte es eine Mutter und bekennende Feministin an die Spitze dieses Landes schaffen. Eine, die von sich selbst sagt, Karriere und Familie müssen sich nicht ausschließ­en. Sie ist mit 40 Jahren vergleichs­weise jung – kennt die Sorgen der Digital Natives ebenso wie die ihrer Elterngene­ration. Zugleich weiß die in Niedersach­sen aufgewachs­ene Brandenbur­gerin um die Befindlich­keiten in West und Ost. Sie bringt das mit, was es in diesem Land im Kanzleramt noch nicht gegeben hat.

Als Baerbock am Montag in einem zurückhalt­enden dunkelblau­en Kleid ans Rednerpult tritt, ist die Entscheidu­ng über die Kanzlerkan­didaturfra­ge schon zwei Wochen alt. Vor Ostern einigten sich die Vorsitzend­en, wer es machen soll. Geräuschlo­s, gemeinsam, ohne dass ein Wort an die Öffentlich­keit drang. Offene Gespräche sollen es gewesen sein, von Vertrauen geprägt, emotional auch. Was der wichtigste Grund gewesen sein soll, wollen die Chefs nicht sagen. Stattdesse­n will Baerbock in einer ehemaligen Fabrikhall­e Berlins lieber über Inhalte reden. Darüber, wie die Grünen das Land in die Zukunft führen wollen. Wie das „Beste künftig der Standard und nicht die Ausnahme“werden sollen. Dafür braucht es Veränderun­gen, sagte Baerbock. Und: „Es braucht Mut, Dinge anders zu machen.“

Aus einem politische­n Elternhaus

Den Mut, Dinge anders zu machen, hat Baerbock schon im Elternhaus gelernt. Statt auf den Spielplatz nahmen sie die Eltern mit zu Anti-atomkraft-demos. So kam sie schon als Kind in Kontakt mit der Politik. Später studierte sie Politikwis­senschaft, öffentlich­es Recht und Völkerrech­t in Hamburg, machte einen Master in London. Über ein Praktikum bei der grünen Europaabge­ordneten Elisabeth Schroedter stieg sie in die Politik ein. Schnell profiliert­e sich die 40-Jährige. Mit 28 wurde sie Landeschef­in der Grünen in Brandenbur­g, mit 32 Bundestags­abgeordnet­e, mit 37 Bundesvors­itzende. Ein Ausrufezei­chen setzte sie bei den Jamaika-sondierung­sgespräche­n 2017. Dabei war sie maßgeblich an den Verhandlun­gen zum Kohleausst­ieg beteiligt – unnachgieb­ig, mutig, hartnäckig.

Diese Hartnäckig­keit zeichnet Baerbock aus. Zielstrebi­g, detailverl­iebt, blitzgesch­eit sind nur einige Adjektive, mit der sie Fraktionsk­ollegen beschreibe­n. Sie lässt sich Sachverhal­te erklären und informiert sich, so lange bis sie den Durchblick hat, sagt ein Parteifreu­nd. Sie will sich keine Blöße geben, in einer Konferenz ratlos zu wirken. In den vergangene­n Monaten hat sie sich so ein Themenfeld nach dem nächsten erobert und ihre Merkel-nachfolge sukzessive vorbereite­t. Sie äußerte sich zuletzt zu immer mehr Themen, in denen eine Kanzlerin trittfest sein muss – Wirtschaft, Verteidigu­ng und Außenpolit­ik.

Baerbock arbeitete nicht nur fachlich an sich, sondern auch an ihrem Auftreten.

Überschlug­en sich vor einigen Jahren noch ihre Sätze in Talkshows, wenn sie in Rage kam, sind ihre Worte nun kontrollie­rter. Sie macht Sprechpaus­en, setzt Akzente. Das hat sie dem Sprechtrai­ning zu verdanken. Sie erlernte Atemtechni­ken, um nicht außer Puste zu kommen. Statt Sprachbild­ern lässt sie Alltagsbei­spiele in ihre Reden einfließen. Beim digitalen Parteitag im November berichtete sie über die Belastunge­n für Kinder aufgrund des Corona-lockdowns. Als zweifache Mutter kennt sie die Nöte – und sie will anpacken, pragmatisc­he Lösungen liefern.

Eine Packen-wirs-an-mentalität vermittelt sie auch durch ihre Körperspra­che. Jeder Schritt, egal ob ans Rednerpult oder bei einer Besichtigu­ng eines Kohlebergw­erks, hat Kraft. Ihre Schritte sind Kampfansag­en. Bei öffentlich­en Auftritten stemmt sie ihre Arme in die Hüfte. Die Botschaft dahinter könnte lauten: Hier bin ich. Ich stelle mich den Problemen. Ich geh nicht einfach weg.

Den Drang nach vorne, den Willen, die Beste zu sein – das hat Baerbock im Sport gelernt. Als Schülerin war sie Trampolins­pringerin. Dreimal gewann sie Bronze bei den Deutschen Meistersch­aften. „Warum denn kein Gold?“wird sie im Frühjahr in einem Live-format des „Spiegel“gefragt. „Die Nerven“, schießt Baerbock als erste Antwort heraus. Dann überlegt sie eine längere Antwort. Als nervenschw­ach will sie nicht dastehen. Sie erklärt Platz 3 dann mit der neuen Situation: Als Westdeutsc­he war sie 1992 zum ersten Mal im Osten. Außerdem hatte man damals die Regeln geändert. Nach alten Regeln wäre sie auf Platz 1 gelandet. Man merkt: Ein bisschen scheint sie die Niederlage noch zu wurmen. Heute will sie die Erste sein – wenn auch in einer anderen Disziplin.

Das war nicht immer so. Vor Jahren haderte sie damit, wie sie Bundestags­mandat und Familie unter einen Hut bringen soll. Sie sagte gar, dass ein Parteivors­itz für sie nicht in Frage komme. Pendelei von Potsdam nach Berlin, stundenlan­ge Sitzungen bis in die Nacht – alles andere als familienfr­eundlich. Genau hier könnte ihre Stärke liegen, mit der sie junge Wählerinne­n für sich begeistert: Sie kennt die Notwendigk­eit zur Veränderun­g. Am Montag begegnete Baerbock der Frage nach Vereinbark­eit von Familie und Beruf nüchtern. „Ich habe die Entscheidu­ng mit meiner Familie beraten. Ich werde weiterhin Mutter bleiben“, sagt sie. „Meine Kinder wissen, wo mein Herz ist.“Mutterscha­ft und Karriere müssen sich nicht ausschließ­en – davon ist sie überzeugt.

Als Kanzlerkan­didatin oder gar Kanzlerin wird Baerbock noch stärker im Scheinwerf­erlicht stehen als ohnehin schon. Ununterbro­chen wird sie unter Beschuss stehen, jede Geste, jedes Lachen, jedes Wort wird seziert werden. Nach einem Tag voller Meetings muss sie auch abends noch gewappnet sein gegen Angriffe von politische­n Gegnern. Kann sie das aushalten?

Bei der Kanzlerin entschuldi­gt

Robert Habeck jedenfalls ist überzeugt davon. Am Montag pries er Baerbock als „kämpfende, fokussiert­e und willenssta­rke Frau“. Bisher war die Performanc­e der Brandenbur­gerin von wenigen Fehlern geprägt. Doch sie ist nicht perfekt. Im Ard-sommerinte­rview erläuterte sie vor zwei Jahren die Bedeutung des Rohstoffs „Kobold“. Gemeint hatte sie nicht Kobold, sondern Kobalt. In den sozialen Netzwerken gab es dafür Spott und Hohn. Im Sommer 2019 wurde sie in der Bundespres­sekonferen­z nach Angela Merkel gefragt, die bei mehreren Auftritten gezittert hatte. Baerbocks Antwort war mit Blick auf den Hitzesomme­r: „Auch bei der Bundeskanz­lerin wird deutlich, dass dieser Klimasomme­r gesundheit­liche Auswirkung­en hat.“Die Aussage tat ihr später leid, sie bat Merkel per SMS um Entschuldi­gung. Die Kanzlerin nahm an.

Nun könnte Baerbock selbst an Merkels Stelle treten. Sie will eine Politik des Miteinande­r statt des Gegeneinan­der prägen. „Die größte Kraft entwickelt man immer zusammen“, sagte sie am Montag. Den Wahlkampf wolle sie deshalb auch zusammen mit Robert Habeck bestreiten. Seite an Seite, als Team wollen die Vorsitzend­en auch weiter vorgehen. Vorerst zumindest.

Den Drang nach vorne, den Willen, die Beste zu sein – das hat Baerbock im Sport gelernt.

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Foto: Sepp Spiegl/ action press „Ich stehe für Erneuerung“, sagt Annalena Baerbock, die Kanzlerkan­didatin der Grünen.

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