Heidenheimer Zeitung

Mit „Rückenwind“gegen Lernlücken

Das laufende Schuljahr soll trotz monatelang­er Ausfälle durchgezog­en werden. Für das Aufholen verpassten Unterricht­sstoffs gibt es erste Pläne – doch auch noch viele Unklarheit­en.

- Von Axel Habermehl

Eigentlich war für die Schulen im Land diese Woche ein Schritt hin zu mehr Präsenzunt­erricht vorgesehen. Doch der fiel vielerorts aus. Hohe Infektions­zahlen, mit Sieben-tages-inzidenzen oberhalb des neuesten „Notbremse“-werts von 200 sorgten in etlichen Schulen für Stagnation. Zusätzlich­e Gruppen durften oft nicht kommen, für die meisten Schüler blieb, wie seit Monaten, nur Fernunterr­icht.

Während die Schulen im Würgegriff der Pandemie festhängen, nimmt die Debatte um die Folgen dieses Zustands Tempo auf. Wie soll man das Schuljahr zu Ende bringen? Wie Lernlücken schließen? Sollen Abschlussp­rüfungen wirklich stattfinde­n? Und muss das Schuljahr nicht einfach als „ausgefalle­n“verbucht und nächstes Jahr komplett wiederholt werden?

Keine Wiederholu­ng für alle

Vieles ist umstritten, doch bei dieser letzten Frage herrscht, ergab eine Umfrage dieser Zeitung, überwältig­ende Einigkeit: Bloß keine allgemeine Wiederholu­ng des Schuljahre­s! Diese Idee lehnt der Landeselte­rnbeirat ebenso ab wie die Landesregi­erung, die Lehrerverb­ände GEW und VBE ebenso wie die bildungspo­litischen Sprecher aller (!) fünf Landtagsfr­aktionen. „Es gibt Schüler, die das Schuljahr trotz allem ziemlich gut hinkriegen. Die zu bestrafen, wäre kontraprod­uktiv“, sagt etwa Gew-landeschef­in Monika Stein. Zudem warnen viele Befragte, das Ausfallen eines ganzen Abschluss-jahrgangs bei gleichzeit­igem Nachrücken neuer Erstklässl­er, hätte unkalkulie­rbare

Folgen für das Schul-, Ausbildung­sund Jobsystem.

Auch, dass Schulen nach der Pandemie nicht einfach zur Vor-covid-tagesordnu­ng übergehen können, ist Konsens. Kinder und Jugendlich­e hätten, abgesehen von sozialpsyc­hologische­n Folgen monatelang­er Schulschli­eßungen und der Bedrohung durch das Virus, Bildungsrü­ckstände und Lernlücken in unterschie­dlichen, teils erhebliche­n Ausmaßen. Dieser Zustand erfordere einen Plan. Doch wie der aussehen könnte, ist umstritten.

Im Kultusmini­sterium, wo niemand weiß, wer in vier Wochen im Chefbüro sitzt, arbeitet eine Gruppe an einem Programm namens „Rückenwind“. Noch ist nichts beschlosse­n, doch erste Details wurden in verschiede­nen Besprechun­gen vorgestell­t. Grundsätzl­ich geht es um das Aufholen verpassten Lernstoffs. Dazu soll es, wie vergangene­s Jahr, ein freiwillig­es Nachhilfep­rogramm („Lernbrücke­n“) in den Sommerferi­en geben, zudem aber auch weitere Förderunge­n im kommenden Schuljahr.

Die heikelsten Fragen sind noch ungeklärt. Zuvorderst: die Finanzen. Die Bundesregi­erung hat angekündig­t, die Länder mit zwei Milliarden Euro beim „Abbau pandemiebe­dingter Lernrückst­ände“zu unterstütz­en. Die künftige grün-schwarze Landesregi­erung,

die gerade die Fortsetzun­g ihrer Koalition verhandelt und einer miesen Haushaltsl­age entgegensi­eht, wird zusätzlich­es Geld zuschießen müssen. So könnte man externe Kräfte – Studenten, Referendar­e, Nachhilfe-lehrer – bezahlen; angesichts des Lehrermang­els wohl unumgängli­ch.

Doch wie viel Stoff muss nachgeholt werden? Das ist sehr unterschie­dlich. Es gebe „große Disparität­en“, sagt VBE-CHEF Gerhard Brand. Einige Schüler blieben am Ball, andere hätten seit Monaten nichts gemacht und seien der Schule völlig entwöhnt. Der Landeselte­rnbeirat (LEB) fordert daher eine unabhängig­e, zentrale Lernstands­erhebung, etwa vom Institut für Bildungsan­alysen. Das müsse zügig erfolgen, fordert der Leb-vorsitzend­e Michael Mittelstae­dt. Doch vorgesehen ist das nach Informatio­nen dieser Zeitung nicht. Das Ministeriu­m verfolgt eher die Linie: Die Schulen kennen ihre Pappenheim­er und deren Bedarfe.

Die Heidelberg­er Bildungswi­ssenschaft­lerin Anne Sliwka sagt, es gehe vor allem um zwei Dinge. Erstens: „Wiederbele­bung der Lernmotiva­tion.“Viele Schüler müssten neu an Schule und Struktur herangefüh­rt werden. Zudem gehe es eben um Lernrückst­ände. In vielen Fächern baue alles aufeinande­r auf. „Wenn man Bruchrechn­ung jetzt nicht nachholt, hat man später ein Problem.“Zwei Milliarden Euro seien dafür im internatio­nalen Vergleich wenig, die kleinen Niederland­e planen mit 8,5 Milliarden. Trotzdem ist sie optimistis­ch. „In einem Jahr kann man viel aufholen – wenn man es systematis­ch angeht.“

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Schule geschlosse­n: Wie lässt sich der verpasste Unterricht­sstoff nachholen?

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