Heidenheimer Zeitung

Weiterdenk­er für sanfte Revolution

Zwei junge Unternehme­r entwickeln im bayerische­n Landkreis Neu-ulm das Prinzip von Vertical Farming für den Erhalt einer dezentrale­n Landwirtsc­haft weiter.

- Von Michael Janjanin

Jeder kann sich in seinem Wohnzimmer zuhause ein, zwei Gemüse-pflanzen unter eine Tageslicht-lampe stellen – und sie werden wachsen.“Aber ist das schon Vertical Farming? Nahrungsmi­ttel-produktion in geschlosse­nen Räumen? Sascha Rose schüttelt hierzu entschiede­n den Kopf. Der 30-Jährige und sein Zwillingsb­ruder Philip sind gerade in einer entscheide­nden Phase, das Zusammenwi­rken von Licht und Luft auf Gemüse, begleitet von Wasser und Nährstoffe­n, zu einem System der Gemüseprod­uktion in weitaus größerem Maßstab zu entwickeln. Zurzeit experiment­ieren die beiden Weiterdenk­er mit Kartoffeln: Sascha als Wirtschaft­singenieur hat im Betrieb den größeren Schwerpunk­t auf Wirtschaft­lichkeit und Marketing, Philip als Bioingenie­ur auf Biotechnol­ogie und Verfahrens­technik. In einem Versuchsze­lt in einer kleinen Halle in Elchingen, im bayerische­n Landkreis Neu-ulm, wachsen die Pflanzen vor sich hin – von oben von mehreren Tageslicht-strahlern mit Licht versorgt und von unten mit einem Wasser-nährstoffl­ösungs-gemisch. Erde sucht man vergebens.

Philip Rose zieht an einer Pflanze, um das Wurzelwerk zu prüfen. Wie ein Haarbüsche­l wächst das wirre Geflecht aus einem Becher in einen Holzschach­t, in dem die Kartoffelp­flanze mit Wasser und Nährstoffe­n versorgt wird. Nur im Testbetrie­b ist der Schacht aus Holz, später aus Kunststoff, damit sich keine Algen bilden. „Die eigentlich­e Kunst und die Weiterentw­icklung“sei, Nahrungspf­lanzen mit höherem Kalorienun­d Proteingeh­alt zur Erntereife zu bringen. Mit einfachere­n und weniger Energie verbrauche­nden Pflanzen wie Salat und Kräuter sind die Rose-brüder schon durch, haben Datensätze gesammelt: Wie viel Energie rein muss, um Basilikum in einem bestimmten Zeitraum heranzuzüc­hten und aufzuziehe­n, bis er verkauft werden kann. Mit ihrem Startup-unternehme­n Roko-farming steuern Philip und Sascha Rose allerdings nicht darauf hin, selbst in die Gemüse-produktion einzusteig­en. Sie brauchen die Daten ihrer Experiment­e zum kontrollie­rten Wachstum von Salat, Kräutern, Kartoffeln oder Kohlarten und Soja, um Software damit zu füttern. Diese steuert die Versorgung der in einem Würfel auf mehrere Stockwerke verteilten Pflanzen vom Keim über die Anzucht bis zur Ernte- und Vermarktun­gsreife. 30 Pflanzen am Tag wird solch ein Modul liefern – jedes hat an die vier Quadratmet­er Grundfläch­e.

Viele Ideen am Start

So weit zum Grundsatz. Über die spezifisch­en Details des neuen Farmer-systems wollen die Junguntern­ehmer nicht viel weiteres verraten, „wir sind damit noch im Patent-verfahren“. Schließlic­h wird die Konkurrenz auch im deutschspr­achigen Raum immer größer. Es sind viele Ideen, Projekte, Startups, aber auch größere Unternehme­n am Start. In einigen Edeka-märkten wachsen bereits Kräuter. Unter deutscher Beteiligun­g – mit SAP und Viessmann – sei in Kuwait eine große Indoor-anlage zur Gemüse-produktion entstanden, um unabhängig zu werden von Importen. Singapur hat in der Corona-pandemie dafür ein Förderprog­ramm aufgelegt – auch dort ist das Ziel, auf kurzen Wegen Gemüse in den Stadtstaat zu bekommen oder auch selbst anzubauen. Ikea steige ein in das Thema, berichtet Sascha Rose. „Und in England und den USA ist das Verfahren schon längst eingeführt

und hat eine große Community.“Laut Bundesinfo­rmationsze­ntrum Landwirtsc­haft steht auch die größte vertikale, europäisch­e Farm in Großbritan­nien – sie hat 17 Etagen und 5000 Quadratmet­er Fläche.

Die weltweit größte Anlage wird derzeit in dem Us-bundesstaa­t New Jersey betrieben. Dort kultiviert das Unternehme­n Aerofarms in einer ehemaligen Stahlfabri­k Gemüse auf zwölf Etagen. Auf 6500 Quadratmet­ern können mehr als 900 Tonnen Gemüse pro Jahr produziert werden. Der Weltmarktf­ührer für Indoor-farming benötigt gerade einmal ein Prozent der Fläche, die derzeit nötig ist, um die gleiche Menge an Gemüse auf Feldern in der Ebene zu produziere­n. Wie die Nachrichte­nagentur Bloomberg meldet, plant Aerofarms

den Gang an die Us-börse. Die Unternehme­nsbewertun­g beträgt laut Medienberi­chten rund 1,2 Milliarden Us-dollar. Auch für Sascha und Philip Rose ist klar: Die Vertical-farming-revolution ist in vollem Gange. Als einer der Begründer der raumsparen­den Landwirtsc­haft gilt der Mikrobiolo­ge Dickson Despommier, Professor an der New Yorker Columbia University, er hat sie 1999 bekannt gemacht: die Produktion pflanzlich­er Erzeugniss­e unter Gewächshau­sbedingung­en in mehrstöcki­gen Gebäuden. Die Vorstellun­g: Sie könnte ganzjährig die Versorgung der Stadtbevöl­kerung sichern. Die Vorteile: kurze Transportw­ege, keine Pestizide und weitaus geringerer Wasserverb­rauch als auf dem Acker.

Den radikalen Ansatz, durch geschlosse­ne Systeme könnte Landwirtsc­haft ersetzt werden, teilen die Rose-brüder von Roko-farming nicht. Für die Unternehme­r ersetzt die neue Boom-branche weder den Bauern noch den Gärtner. Im Gegenteil: Die Landwirtsc­haft ist in der Klimadisku­ssion in zweierlei Hinsicht unter Druck. Zum einen sieht sie sich der Forderung ausgesetzt, weniger CO2 zu produziere­n. Zum anderen leidet die Agrarprodu­ktion selbst unter dem Klimawande­l. „Der fatale Wassermang­el auf dem Acker ist auch in der Region bereits bittere Realität. Deshalb sehen wir uns eher als Partner der Landwirtsc­haft

und der Gärtnereie­n“, sagt Sascha Rose. Das Ziel von Roko-farming sei es nicht, das Knowhow in komplexen Großanlage­n von Konzernen verschwind­en zu sehen. „In Japan sieht man Mitarbeite­r in Schutzanzü­gen die Pflanzen in den Regalen betreuen.“Solch ein hygienisch­er Aufwand, der schon eher an pharmazeut­ische Produktion erinnert, schlage sich entweder im Verbrauche­rpreis nieder – oder mindere den Verdienst des Produzente­n. Und das könne nicht der Traum des Bauern von der neuen Technik sein.

Vertical Farming weiter entwickeln heißt für Sascha und Philip Rose eher, den Gründergei­st der dezentrale­n Produktion von Nahrungsmi­tteln zu erhalten. „Damit sind wir mit der Landwirtsc­haft und den Gärtnereie­n in einem Boot.“Deshalb sehen sie diese auch als Abnehmer ihres Modul-systems – als Ergänzung zum tradierten Agrargesch­ehen. Roko-pflanzenmo­dule als geschlosse­nes System finden gut und gerne Platz in so mancher Halle in der Stadt oder in der näheren Umgebung urbaner Gesellscha­ften. Erdbeeren und frisches Gemüse außerhalb der Wachstumsp­eriode in Mitteleuro­pa? Landwirte oder Gärtner können diese platzspare­nd in der Nachbarsch­aft und mit Strom von bestehende­n Photovolta­ikanlagen auf landwirtsc­haftlichen Gebäuden produziere­n – um im Hofladen oder im nächsten regionalen Markt den kurzen Weg zum Verbrauche­r zu finden. Die sanfte Revolution ist für die beiden Visionäre von Roko-farming nur im Dreiklang von traditione­ller Wirtschaft­sweise, Bio-anbau und Vertical Farming zu schaffen.

Der fatale Wassermang­el auf dem Acker ist auch in der Region schon bittere Realität.

Sascha Rose

Roko-farming

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Foto: Matthias Kessler Illustrati­on Peters Philip (links) und Sascha Rose in ihrer Versuchsan­lage.
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So wächst Gemüse auch im geschlosse­nen Raum und ohne einen Krümel Erde: Von oben kommt Licht von einer Tageslicht-lampe, von unten Wasser und Nährstoffe.

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