Weiterdenker für sanfte Revolution
Zwei junge Unternehmer entwickeln im bayerischen Landkreis Neu-ulm das Prinzip von Vertical Farming für den Erhalt einer dezentralen Landwirtschaft weiter.
Jeder kann sich in seinem Wohnzimmer zuhause ein, zwei Gemüse-pflanzen unter eine Tageslicht-lampe stellen – und sie werden wachsen.“Aber ist das schon Vertical Farming? Nahrungsmittel-produktion in geschlossenen Räumen? Sascha Rose schüttelt hierzu entschieden den Kopf. Der 30-Jährige und sein Zwillingsbruder Philip sind gerade in einer entscheidenden Phase, das Zusammenwirken von Licht und Luft auf Gemüse, begleitet von Wasser und Nährstoffen, zu einem System der Gemüseproduktion in weitaus größerem Maßstab zu entwickeln. Zurzeit experimentieren die beiden Weiterdenker mit Kartoffeln: Sascha als Wirtschaftsingenieur hat im Betrieb den größeren Schwerpunkt auf Wirtschaftlichkeit und Marketing, Philip als Bioingenieur auf Biotechnologie und Verfahrenstechnik. In einem Versuchszelt in einer kleinen Halle in Elchingen, im bayerischen Landkreis Neu-ulm, wachsen die Pflanzen vor sich hin – von oben von mehreren Tageslicht-strahlern mit Licht versorgt und von unten mit einem Wasser-nährstofflösungs-gemisch. Erde sucht man vergebens.
Philip Rose zieht an einer Pflanze, um das Wurzelwerk zu prüfen. Wie ein Haarbüschel wächst das wirre Geflecht aus einem Becher in einen Holzschacht, in dem die Kartoffelpflanze mit Wasser und Nährstoffen versorgt wird. Nur im Testbetrieb ist der Schacht aus Holz, später aus Kunststoff, damit sich keine Algen bilden. „Die eigentliche Kunst und die Weiterentwicklung“sei, Nahrungspflanzen mit höherem Kalorienund Proteingehalt zur Erntereife zu bringen. Mit einfacheren und weniger Energie verbrauchenden Pflanzen wie Salat und Kräuter sind die Rose-brüder schon durch, haben Datensätze gesammelt: Wie viel Energie rein muss, um Basilikum in einem bestimmten Zeitraum heranzuzüchten und aufzuziehen, bis er verkauft werden kann. Mit ihrem Startup-unternehmen Roko-farming steuern Philip und Sascha Rose allerdings nicht darauf hin, selbst in die Gemüse-produktion einzusteigen. Sie brauchen die Daten ihrer Experimente zum kontrollierten Wachstum von Salat, Kräutern, Kartoffeln oder Kohlarten und Soja, um Software damit zu füttern. Diese steuert die Versorgung der in einem Würfel auf mehrere Stockwerke verteilten Pflanzen vom Keim über die Anzucht bis zur Ernte- und Vermarktungsreife. 30 Pflanzen am Tag wird solch ein Modul liefern – jedes hat an die vier Quadratmeter Grundfläche.
Viele Ideen am Start
So weit zum Grundsatz. Über die spezifischen Details des neuen Farmer-systems wollen die Jungunternehmer nicht viel weiteres verraten, „wir sind damit noch im Patent-verfahren“. Schließlich wird die Konkurrenz auch im deutschsprachigen Raum immer größer. Es sind viele Ideen, Projekte, Startups, aber auch größere Unternehmen am Start. In einigen Edeka-märkten wachsen bereits Kräuter. Unter deutscher Beteiligung – mit SAP und Viessmann – sei in Kuwait eine große Indoor-anlage zur Gemüse-produktion entstanden, um unabhängig zu werden von Importen. Singapur hat in der Corona-pandemie dafür ein Förderprogramm aufgelegt – auch dort ist das Ziel, auf kurzen Wegen Gemüse in den Stadtstaat zu bekommen oder auch selbst anzubauen. Ikea steige ein in das Thema, berichtet Sascha Rose. „Und in England und den USA ist das Verfahren schon längst eingeführt
und hat eine große Community.“Laut Bundesinformationszentrum Landwirtschaft steht auch die größte vertikale, europäische Farm in Großbritannien – sie hat 17 Etagen und 5000 Quadratmeter Fläche.
Die weltweit größte Anlage wird derzeit in dem Us-bundesstaat New Jersey betrieben. Dort kultiviert das Unternehmen Aerofarms in einer ehemaligen Stahlfabrik Gemüse auf zwölf Etagen. Auf 6500 Quadratmetern können mehr als 900 Tonnen Gemüse pro Jahr produziert werden. Der Weltmarktführer für Indoor-farming benötigt gerade einmal ein Prozent der Fläche, die derzeit nötig ist, um die gleiche Menge an Gemüse auf Feldern in der Ebene zu produzieren. Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg meldet, plant Aerofarms
den Gang an die Us-börse. Die Unternehmensbewertung beträgt laut Medienberichten rund 1,2 Milliarden Us-dollar. Auch für Sascha und Philip Rose ist klar: Die Vertical-farming-revolution ist in vollem Gange. Als einer der Begründer der raumsparenden Landwirtschaft gilt der Mikrobiologe Dickson Despommier, Professor an der New Yorker Columbia University, er hat sie 1999 bekannt gemacht: die Produktion pflanzlicher Erzeugnisse unter Gewächshausbedingungen in mehrstöckigen Gebäuden. Die Vorstellung: Sie könnte ganzjährig die Versorgung der Stadtbevölkerung sichern. Die Vorteile: kurze Transportwege, keine Pestizide und weitaus geringerer Wasserverbrauch als auf dem Acker.
Den radikalen Ansatz, durch geschlossene Systeme könnte Landwirtschaft ersetzt werden, teilen die Rose-brüder von Roko-farming nicht. Für die Unternehmer ersetzt die neue Boom-branche weder den Bauern noch den Gärtner. Im Gegenteil: Die Landwirtschaft ist in der Klimadiskussion in zweierlei Hinsicht unter Druck. Zum einen sieht sie sich der Forderung ausgesetzt, weniger CO2 zu produzieren. Zum anderen leidet die Agrarproduktion selbst unter dem Klimawandel. „Der fatale Wassermangel auf dem Acker ist auch in der Region bereits bittere Realität. Deshalb sehen wir uns eher als Partner der Landwirtschaft
und der Gärtnereien“, sagt Sascha Rose. Das Ziel von Roko-farming sei es nicht, das Knowhow in komplexen Großanlagen von Konzernen verschwinden zu sehen. „In Japan sieht man Mitarbeiter in Schutzanzügen die Pflanzen in den Regalen betreuen.“Solch ein hygienischer Aufwand, der schon eher an pharmazeutische Produktion erinnert, schlage sich entweder im Verbraucherpreis nieder – oder mindere den Verdienst des Produzenten. Und das könne nicht der Traum des Bauern von der neuen Technik sein.
Vertical Farming weiter entwickeln heißt für Sascha und Philip Rose eher, den Gründergeist der dezentralen Produktion von Nahrungsmitteln zu erhalten. „Damit sind wir mit der Landwirtschaft und den Gärtnereien in einem Boot.“Deshalb sehen sie diese auch als Abnehmer ihres Modul-systems – als Ergänzung zum tradierten Agrargeschehen. Roko-pflanzenmodule als geschlossenes System finden gut und gerne Platz in so mancher Halle in der Stadt oder in der näheren Umgebung urbaner Gesellschaften. Erdbeeren und frisches Gemüse außerhalb der Wachstumsperiode in Mitteleuropa? Landwirte oder Gärtner können diese platzsparend in der Nachbarschaft und mit Strom von bestehenden Photovoltaikanlagen auf landwirtschaftlichen Gebäuden produzieren – um im Hofladen oder im nächsten regionalen Markt den kurzen Weg zum Verbraucher zu finden. Die sanfte Revolution ist für die beiden Visionäre von Roko-farming nur im Dreiklang von traditioneller Wirtschaftsweise, Bio-anbau und Vertical Farming zu schaffen.
Der fatale Wassermangel auf dem Acker ist auch in der Region schon bittere Realität.
Sascha Rose
Roko-farming