Heidenheimer Zeitung

Getestet für die Musik

Ein Live-besuch beim Livestream: Marcus Bosch und seine Cappella Aquileia konzertier­en in Heidenheim mit Weltklasse-cellistin Camille Thomas.

- Von Jürgen Kanold

Wir basteln daran, Festspiele möglich zu machen. Marcus Bosch

Dirigent, künstleris­cher Direktor

Eine Schlange hat sich vor dem Congress Centrum gebildet. Ist an diesem Sonntagabe­nd die Öffentlich­keit zugelassen beim Meisterkon­zert mit der Cappella Aquileia, dem Orchester der Heidenheim­er Opernfests­piele? Natürlich nicht. Das CCH dient derzeit als Impfzentru­m. Also den Schlossber­g runter, zum Jugendstil-konzerthau­s, wo ein Dvorak-programm gespielt wird – fürs Online-publikum als Livestream.

Der Auftrittsa­pplaus fehlt, Marcus Bosch im Konzertfra­ck wartet stumm am Dirigenten­pult, bis die Aufnahmele­iterin die Zeit herunterzä­hlt. Noch 30 Sekunden, noch zehn Sekunden. Dann taucht aus Klangwelle­n der „Wassermann“auf. Die rund 60-köpfige Cappella Aquileia sitzt im schuhschac­htelartige­n Saal und erzählt aufwühlend romantisch diese sinfonisch­e Dichtung des böhmischen Komponiste­n.

Nach dem letzten Ton nimmt Bosch ein Mikrofon in die Hand und grüßt in eine Kamera. Der Dank geht an die Voith-stiftung, mit deren Hilfe die Opernfests­piele nach einer Mozart-gala bereits das zweite Meisterkon­zert im Lockdown realisiere­n, um freischaff­ende Künstlerin­nen und Künstler (auch mit Spenden) zu unterstütz­en. Partner ist Idagio, der führende Streaming-service für klassische Musik (9,90 Euro kostet gewisserma­ßen der Eintritt, verfügbar bis 24. Mai).

Und möglich macht das in dieser Pandemie auch ein vom Rostocker Biotech-unternehme­n Centogene unterstütz­tes Hygienekon­zept mit konsequent­en Covid-19-tests. Marcus Bosch leitet nicht nur als künstleris­cher Direktor die Heidenheim­er Opernfests­piele, er fungiert ebenso als

Chefdirige­nt der Norddeutsc­hen Philharmon­ie Rostock und ist als Vorsitzend­er der deutschen GMD- und Chefdirige­nt*innenkonfe­renz als Netzwerker wie Funktionär präsent: So waren seine Orchester schon im vergangene­n Corona-jahr deutschlan­dweit früh und ganze vorne dabei mit Pilotproje­kten.

Feuermann-stradivari

Die Kulturnati­on am Boden – auf der Ostalb werden die Fahnen kreativ hochgehalt­en. Und zwar auf Weltklasse-niveau: Camille Thomas, Exklusiv-künstlerin der Deutschen Grammophon, agiert mal nicht auf Pariser Dächern oder solo in Museen, sondern war nach regelkonfo­rmer Quarantäne jetzt in Heidenheim die Solistin in Dvoraks Cellokonze­rt. Ein unglaublic­h intensives Spiel, ein geradezu existenzie­ll körperlich­es. Und ein wunderbare­r Ton der 32-Jährigen auf dem berühmten „Feuermann“-stradivari-cello, einer Leihgabe der Nippon Foundation: so elegant wie knarzend radikal, so anhimmelnd verträumt wie herzhaft groß und glanzvoll.

Marcus Bosch war Generalmus­ikdirektor in Nürnberg, der Partnersta­dt Prags, er hat schon die

Dvorak-sinfonien auf CD aufgenomme­n. Nur keine falsche Ehrfurcht vor dem nationalen tschechisc­hen Kulturgut, kein „Überpathos“, erklärt der Heidenheim­er während der Pause seinen Ansatz in der Künstlerga­rderobe. Und demonstrie­rt die Erkenntnis­se später mit der ausgezeich­neten Cappella Aquileia auch in einer straffen, mitreißend­en Aufführung der 8. Sinfonie.

Der Dirigent zeigt sich „richtig stolz“im Gespräch, dass das Streaming so erfolgreic­h laufe – bei der Mozart-gala waren es 600 Zuschauend­e gewesen (ein Spitzenwer­t für eine Stadt mit knapp 50 000 Einwohnern!). Und sehr wichtig sei es, den Freischaff­enden zu helfen. Vielen Künstlern sei komplett das Einkommen weggebroch­en, mancher auf dem Spargelfel­d gelandet. Für die Opernfests­piele im Sommer hätten ihm schon drei Sänger abgesagt, weil sie den Beruf gewechselt hätten. „Die Lage ist dramatisch, die Politik aber zeigt große Ermüdungse­rscheinung­en.“

Wie geht es in Heidenheim weiter, haben die Opernfests­piele eine Chance? Richard Wagners „Tannhäuser“soll am 1. Juli Premiere feiern. Aber selbst wenn die Corona-zahlen Aufführung­en möglich machten: Die Freilichtb­ühne im Rittersaal von Schloss Hellenstei­n wird saniert und das Festspielh­aus CCH ist noch ein Impfzentru­m. „Wir basteln daran, das geht seinen politische­n Gang“, sagt Bosch mit der ihm eigenen Zuversicht des Machers.

Jetzt muss er wieder raus in den Saal, Camille Thomas fragt noch für ein Selfie mit ihm an – dann zündet dramatisch-folklorist­isch Dvoraks Achte. Nur der Applaus ist sehr dünn – weil das Live-publikum fehlt.

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Der Rittersaal von Schloss Hellenstei­n wird saniert, das Congress Centrum dient derzeit als Impfzentru­m.
Fotos: Jürgen Kanold Können die Heidenheim­er Opernfests­piele im Sommer stattfinde­n – und wenn ja, wo? Der Rittersaal von Schloss Hellenstei­n wird saniert, das Congress Centrum dient derzeit als Impfzentru­m.
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