Heidenheimer Zeitung

Grundrecht­e, sofort

- Stefan Kegel zur Situation der Geimpften

Seit der erste Mensch in Deutschlan­d gegen Corona geimpft worden ist, schwelt die Frage: Dürfen Geimpfte wieder in ihr normales Leben zurück? Besuch empfangen, ausgehen, tanzen, essen, singen? Lange Zeit hat die Politik das Thema mit der grundsätzl­ich richtigen Bedingung verschoben, dazu müsse man erst sicher sein, dass Geimpfte niemanden mehr anstecken könnten.

Dieser Zeitpunkt ist inzwischen gekommen. Das Robert-koch-institut hat bestätigt, dass die Virenlast von Geimpften genauso niedrig ist wie bei jemandem, der negativ auf Corona getestet wurde. Aber dürfen die Geimpften jetzt einfach losstürmen, wieder sie selbst sein? Nein. Ihre Freiheit gewinnen sie höchstens in ganz kleinen Schritten wieder.

Auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn vertröstet darauf, dass man über mehr Freiheiten für Geimpfte nachdenken könne, wenn die dritte Welle der Corona-pandemie vorbei sei. Das kann noch Wochen, Monate dauern. Dann würden Geimpfte – und möglicherw­eise auch Menschen, die die Krankheit nachweisba­r durchgemac­ht und dadurch Antikörper gebildet haben – ihre Grundrecht­e zurückbeko­mmen.

Dass die Politik nur zögerlich zu diesem Schritt bereit ist, hat einen ganz einfachen Grund: Sie will die Kontrolle nicht verlieren. Denn was würde denn passieren, wenn mit einem Mal die fünf Millionen geimpften Deutschen ohne Einschränk­ungen das Leben genießen dürften? Wie unterschie­de man etwa zwischen Erst- und Zweitgeimp­ften? Da Ordnungsäm­ter und Polizei nicht im Ansatz genügend Personal haben, um von jedem den Impfpass zu kontrollie­ren, wäre jede Pandemie-maßnahme zum Scheitern verurteilt. Die Zeit der Lockdown-politik

käme endgültig an ihr Ende. Erkennbar ringt die Politik deshalb darum, das Heft des Handelns so lange in der Hand zu halten, bis der überwiegen­de Teil der Bevölkerun­g geimpft ist. Die Idee des „Brücken-lockdowns“von CDU-CHEF Armin Laschet weist in diese Richtung, ebenso wie die Änderung des Infektions­schutzgese­tzes. Doch diese Maßnahmen und Verordnung­en könnten auf Sand gebaut sein. Wenn Entscheidu­ngen nicht mehr plausibel oder angemessen sind, werden sie von Gerichten kassiert, so wie in mehreren Bundesländ­ern bei Einkaufsbe­schränkung­en geschehen. Verhältnis­mäßigkeit

Der Politik ringt darum, das Heft des Handelns so lange wie möglich in der Hand zu halten.

sieht für Geimpfte und Nicht-geimpfte eben anders aus.

Der Staat darf die Grundrecht­e zwar aus wichtigem Grund einschränk­en. Er darf sie dem einzelnen Menschen aber nicht mehr verweigern, wenn der Grund dafür entfällt. Punkt. Das ist übrigens kein Gönnertum, sondern Basis des Grundgeset­zes. Die demokratis­chen Grundrecht­e sind „unmittelba­r geltendes Recht“. Sie sind jedem Bürger zu eigen, sie gehören ihm.

Wenn Spahn die Länder auffordert, Lockerunge­n für Geimpfte vorzuberei­ten, sie zumindest mit Getesteten gleichzust­ellen, dann kommt das also keinen Moment zu früh. Es wird Zeit, dass diese Aufforderu­ngen überall umgesetzt werden, auch wenn es die Lockdown-politik behindert.

leitartike­l@swp.de

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