Grundrechte, sofort
Seit der erste Mensch in Deutschland gegen Corona geimpft worden ist, schwelt die Frage: Dürfen Geimpfte wieder in ihr normales Leben zurück? Besuch empfangen, ausgehen, tanzen, essen, singen? Lange Zeit hat die Politik das Thema mit der grundsätzlich richtigen Bedingung verschoben, dazu müsse man erst sicher sein, dass Geimpfte niemanden mehr anstecken könnten.
Dieser Zeitpunkt ist inzwischen gekommen. Das Robert-koch-institut hat bestätigt, dass die Virenlast von Geimpften genauso niedrig ist wie bei jemandem, der negativ auf Corona getestet wurde. Aber dürfen die Geimpften jetzt einfach losstürmen, wieder sie selbst sein? Nein. Ihre Freiheit gewinnen sie höchstens in ganz kleinen Schritten wieder.
Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vertröstet darauf, dass man über mehr Freiheiten für Geimpfte nachdenken könne, wenn die dritte Welle der Corona-pandemie vorbei sei. Das kann noch Wochen, Monate dauern. Dann würden Geimpfte – und möglicherweise auch Menschen, die die Krankheit nachweisbar durchgemacht und dadurch Antikörper gebildet haben – ihre Grundrechte zurückbekommen.
Dass die Politik nur zögerlich zu diesem Schritt bereit ist, hat einen ganz einfachen Grund: Sie will die Kontrolle nicht verlieren. Denn was würde denn passieren, wenn mit einem Mal die fünf Millionen geimpften Deutschen ohne Einschränkungen das Leben genießen dürften? Wie unterschiede man etwa zwischen Erst- und Zweitgeimpften? Da Ordnungsämter und Polizei nicht im Ansatz genügend Personal haben, um von jedem den Impfpass zu kontrollieren, wäre jede Pandemie-maßnahme zum Scheitern verurteilt. Die Zeit der Lockdown-politik
käme endgültig an ihr Ende. Erkennbar ringt die Politik deshalb darum, das Heft des Handelns so lange in der Hand zu halten, bis der überwiegende Teil der Bevölkerung geimpft ist. Die Idee des „Brücken-lockdowns“von CDU-CHEF Armin Laschet weist in diese Richtung, ebenso wie die Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Doch diese Maßnahmen und Verordnungen könnten auf Sand gebaut sein. Wenn Entscheidungen nicht mehr plausibel oder angemessen sind, werden sie von Gerichten kassiert, so wie in mehreren Bundesländern bei Einkaufsbeschränkungen geschehen. Verhältnismäßigkeit
Der Politik ringt darum, das Heft des Handelns so lange wie möglich in der Hand zu halten.
sieht für Geimpfte und Nicht-geimpfte eben anders aus.
Der Staat darf die Grundrechte zwar aus wichtigem Grund einschränken. Er darf sie dem einzelnen Menschen aber nicht mehr verweigern, wenn der Grund dafür entfällt. Punkt. Das ist übrigens kein Gönnertum, sondern Basis des Grundgesetzes. Die demokratischen Grundrechte sind „unmittelbar geltendes Recht“. Sie sind jedem Bürger zu eigen, sie gehören ihm.
Wenn Spahn die Länder auffordert, Lockerungen für Geimpfte vorzubereiten, sie zumindest mit Getesteten gleichzustellen, dann kommt das also keinen Moment zu früh. Es wird Zeit, dass diese Aufforderungen überall umgesetzt werden, auch wenn es die Lockdown-politik behindert.
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